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Moderne Auguren und Haruspices

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Rom, im Dezember 1954

Zwischen Weihnachten und Neujahr liegt die Saisonspitze für Italiens berufsmäßige Hellseher und Wahrsager. In dieser Zeit wenden sich die Blätter, vom hochseriösen „Corriere della Sera“ bis zur kleinsten Provinzzeitung, an die modernen Nachfahren der Auguren und Haruspices um einen Orakelspruch für das kommende Jahr. Weihnachten steht bevor, wenn auf der Piazza Navona die Christmarktbuden aufgeschlagen werden, die Hirten mit ihren Dudelsäcken von den Abruzzen heruntersteigen und auf der Piazza San Silvestro die kleine Bucklige wieder den neuesten „Barbanera“ verkauft. Es ist dies eine bescheidene Druckschrift des christlichdemokratischen Senators Benedetto Pasquini aus Foligno, ein Werk mit langjähriger Tradition und weiter Verbreitung, weil es neben einer Fülle praktischer Ratschläge auch präzise Angaben über die Ereignisse enthält, die im neuen Jahre die Welt erschüttern werden. Der Senator ist zwar bei den Wahlen im Jahre 1953 durehgefallen, doch tat dies seinem Ansehen als Prophet keinen Abbruch.

Die Geschichtsschreiber Alt-Roms erzählen uns, daß die Kunst der Wahrsagerei von den

Etruskern stammt und bis in die späte Kaiserzeit ausgeübt wurde. Es fehlt jedoch an Hinweisen, ob den Auguren und Haruspices jemals Irrtümer unterlaufen sind. Daraus könnte man schließen, daß sie stets ins Schwarze trafen. Aber der Sieg der Technik hat sich auch auf diesem Gebiet verhängsnisvoll ausgewirkt. Statt den Vogelflug zu deuten und die Eingeweideschau vorzunehmen, arbeiten die modernen italienischen Wahrsager vor allem mit gewissen, von der offiziellen Wissenschaft noch nicht erforschten Strahlungen. Sie sind nicht mehr Magier, sie sind „(gelehrte“ geworden und nehmen ausnahmslos den von einer obskuren „okkultistischen Gesellschaft“ verliehenen Professorentitel in Anspruch. Sei es nun, daß die jüngsten Atomexplosionen das Strahlenbild in Verwirrung brachten oder andere Kräfte einen unvorhergesehenen Einfluß ausübten, die Bilanz der Voraussagen für das Jahr 1954 endete mit einem peinlichen Defizit. Einziger Trost: nicht dem zahlenden Publikum (die Währsagerei ist die einzige Kunst, die goldenen Boden hat), sondern höchstens einem maliziösen Journalisten mag einfallen, den „Corriere della Sera" vom 1. Jänner 1954 nachzulesen.

Achille d’Angelo, bekannt als der „Magier von Neapel", heute die größte Kapazität unter Italiens Psychomagnetisten, Professor Adrio Marbis aus Ancona, der von Mussolini verbannt worden sein soll, weil er dessen Sturz voraussagte, der „Magier von Libyen" aus Bari, schlicht Orio genannt, die Professoren alle in Turin, Mailand und Palermo, die behaupten, den Tod Stalins zwei Monate vorher angekündigt zu haben (woran sich heute leider niemand mehr erinnert), sie haben ihren wissenden Blick in die nun schon Vergangenheit gewordene Zukunft geworfen. Was haben sie erkundet?

Die Lage in der Sowjetunion hat ihr besonderes Interesse erweckt. Sie haben das Ende des Marxismus in Rußland vorausgesehen, Gefahren für Malenkow, sowohl physischer wie politischer Art, vielleicht wegen der schwierigen chirurgischen Operation, der er sich unterziehen sollte und von der man dann im Westen nichts gehört hat. Die Weltlage wurde von den Italienischen Telepathen durchaus optimistisch be urteilt. Zehn Jahre lang würde es keinen Krieg geben (indochina war ein belangloses Geplänkel) und keine Atombombe abgeworfen werden. Zwischen dem Ost- und Westblock würde es zu einer allgemeinen Entspannung kommen, zu der Pius XII. in hervorragender Weise beitrüge, was den größten politischen Erfolg seiner Regierungszeit bedeute. Italien und China sollten, Professor Marbis zufolge, in die UNO aufgenommen werden. Die sensationellen Veränderungen in der Sowjetunion sind aber ebensowenig eingetroffen wie das Attentat auf den Schah und der Tod Mossadeqs, der sich, wie man aus Iran erfährt, ausgezeichneter Gesundheit erfreuen soll.

Für Italien, das doch den Hellsehern näherlag, sagte man eine „Stärkung der gegenwärtigen Regierung" voraus. Gemeint war die Regierung Pella, die weniger als zwei Wochen darauf gestürzt wurde. Vorsichtiger hatte sich der „Magier von Toledo“ ausgedrückt, der einfach von Regierungsveränderungen sprach. Womit er auf jedem Fall recht haben konnte. Der Winter sollte ungewöhnlich streng werden, und das Thermometer sank in Rom niemals unter den Nullpunkt, die Ernte würde ausgezeichnet werden und lag dann unter dem Durchschnitt. Dem armen De Gasperi wurde ein glänzender Wiederaufstieg in Aussicht gestellt, und die italienische Nation mußte seinen Tod beklagen.

Den Italienern wurde gutes Wetter versprochen, und man erlebte die Ueberschwem- mungskatastrophe von Salerno, während die angekündigten katastrophalen Ueberschwem- mungen in England heuer glücklicherweise ausgeblieben sind. Pas Rätsel der „Fliegenden Untertassen“ sollte eine überraschende Lösung finden, und man wartet heute noch auf eine Erklärung. König Baudouin von Belgien würde sich im Jahre 1954 verheiraten, hieß es, Ava Gardner eine neue Ehe mit einem „Mann aus einer lateinischen Nation“ eingehen und das Paar Rossellini-Bergman sich scheiden lassen.

Nach so viel Mißgeschick wäre man beinahe versucht, Italiens Auguren und Haruspices zu bedauern. Doch haben sie kein Mitleid nötig. In den Appartements, die sie in Hotels mit Namen wie „Plaza", „Excelsiör“, .¡Embassadeur“ gemietet haben, drängt sich die Menge der Kunden, von einem schwarzgekleideten Sekretär empfangen, der kaum Zeit findet, die Beträge auf den Schecks zu überprüfen und am Telephon den Zeitungen zu antworten, die für das kommende Jahr einen neuen Orakelspruch erbitten. -

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