Gstrein - © Foto: picturedesk.com / Neumayr

Norbert Gstrein: „War ich der? Oder war ich ein anderer?“

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Im Film des Öfteren ein Frauenmörder, privat der zweite Jakob und lange nicht fähig, sich seiner Vergangenheit zu stellen: Norbert Gstrein lotet in seinem neuen Roman „Der zweite Jakob“ die seelischen Abgründe seines Protagonisten als Drahtseilakt zwischen Schuld und Erkenntnis aus.

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Im Film des Öfteren ein Frauenmörder, privat der zweite Jakob und lange nicht fähig, sich seiner Vergangenheit zu stellen: Norbert Gstrein lotet in seinem neuen Roman „Der zweite Jakob“ die seelischen Abgründe seines Protagonisten als Drahtseilakt zwischen Schuld und Erkenntnis aus.

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Die Frage nach dem Schlimmsten, das man je in seinem Leben getan habe, für das man sich nachträglich am meisten schäme, sticht mitten ins Herz. Es ist die Frage einer Tochter an den Vater rund um dessen 60. Geburtstag. Nach anfänglichen Ausflüchten erhält sie tatsächlich eine Antwort. Denn im Leben des Schauspielers Jakob Thurner gibt es wirklich eine vertuschte Straftat, bislang verschwiegen, unbewältigt und nach vielen Jahren nach wie vor präsent: Fahrerflucht nach einem Unfall mit Todesfolge, auch wenn er nicht selbst am Steuer gesessen ist.

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Nur zwei Jahre nach seinem letzten Werk „Als ich jung war“ hat der gebürtige Tiroler und nun in Hamburg lebende Schriftsteller Norbert Gstrein einen weiteren Roman vorgelegt. „Der zweite Jakob“, so der Titel, lässt eine markante und, wie er unterstreicht, bewusst intendierte Verzahnung mit seinem 1988 erschienenen Erstling „Einer“ erkennen, die sich in der Figur des Außenseiters Jakob bündelt. In Gstreins Werken blitzt sie gerne als wichtiger Bezugspunkt auf und lässt damit gleichsam auch autobiografische Koordinaten durchschimmern. Dieser Onkel Jakob ist nämlich anders. Er ist nie einer geregelten Arbeit nachgegangen, taucht oft tagelang unter und hat, wenn es nach der Tiroler Familie geht, wohl kaum das Zeug zum Vorbild, weil er das von ihm Erwartete konterkariert.

Vexierspiel der Identitäten

Im „Zweiten Jakob“ entfaltet Gstrein die Handlung wie so oft in einem kunstvollen Gewebe von Rückblicken und Gegenwartsgeschehen. Der Protagonist findet sich in einem Vexierspiel von Identitäten wieder, in das sich auch der Autor selbst augenzwinkernd in einer Art brüchiger Autofiktion involviert.

Anlässlich seines runden Geburtstages wendet sich ein Biograf an den Schauspieler Jakob Thurner, der bereits bei seinem Filmdebüt über Maud Allan aus Marketinggründen seinen Vor- und Nachnamen abgelegt und sich „Jakob nach [s]einem Onkel und Thurner nach [s]einer Großmutter“ genannt hat. Ganz nebenbei sieht er es auch als feine Möglichkeit, auf diese Weise „der Hotel- und Skiliftbesitzerdynastie zu entkommen“. Schließlich ist für „Freigeister“ im Tiroler Heimatdorf kein Platz, schon gar nicht für den „Nestbeschmutzer“, der einst öffentlich die „Ich-kaufe- dich-Mentalität“ kritisiert und „seine Leute“ als „Faschisten“ bezeichnet hat. Schon seit seiner Kindheit hat man ihn wie später auch seine Tochter Luzie abschätzig mit dem Onkel verglichen, was ihn irgendwann sogar mit Stolz erfüllt. Während der Biograf nun sukzessive Jakobs Lebenslinien nachzuziehen beginnt, steht plötzlich die Frage nach der Bedeutung der Filmrollen – immerhin spielt er dreimal einen Frauenmörder – für seine drei Ehen im Raum, was ihn geradezu zur Weißglut bringt.

Gstrein berührt in diesem vielschichtigen Roman erneut Lebensthemen, die er mit psychologischer Schärfe und Intensität belichtet.

Diese Biografie und vor allem aber Gespräche mit seiner Tochter Luzie stoßen unwillkürlich eine Konfrontation mit unliebsamen Erinnerungen an. Gstrein rollt sie als Rückblenden auf, die er als eigenen Erzählstrang in die Handlung einbaut. Der Unfall damals hat sich in Texas eineinhalb Stunden von El Paso entfernt ereignet, wo er gerade an einem Filmdreh an der Grenze zu Mexiko mitgewirkt hat. Jakob sitzt im Auto seiner Kollegin Xenia, die sich nach einem Streit mit ihrem Verlobten wieder beruhigt hat.

Auf dem Heimweg sehen sie in der Dunkelheit plötzlich eine Frau im Mondlicht neben einem Auto auf einer unasphaltierten Seitenstraße in der Wüste. Vielleicht eine Panne. Aber das Gebüsch dahinter weckt ihren Argwohn. Xenia beschleunigt den Wagen, die Frau schwankt in Richtung Fahrbahn und will sie am Weiterfahren hindern. Dann geht alles sehr schnell. Die Frau ist tot. Weil sich ein anderes Auto nähert, zieht Jakob die Frau ins Gebüsch und die beiden ergreifen bald die Flucht. Die Angst vor der Entdeckung der Tat und Schuldgefühle lagern sich fortan als Sedimente in seinem Bewusstsein ab und werden zu Begleitern seines Lebens.

Prozess der Bewusstwerdung

Über die vier Kapitel dieses facettenreichen Romans entspinnt Gstrein auch eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich, die sich zu einem Drahtseilakt zwischen Schuld und Erkenntnis auswächst: „War ich eine ebenso tragische wie lächerliche Figur, bei der sich am Ende Kunst und Leben nicht mehr unterscheiden ließen? ... War ich der? Oder war ich ein anderer?“ Erst langsam erhellt sich das eigene Versagen. Die Kapitelüberschrift „Sag mir, wer du bist“ lässt sich in Anlehnung an die Worte der Gangs in Mexiko als „aggressive Selbstbehauptung gegenüber anderen“ durchaus auch auf Jakobs Gehabe übertragen.

Gerade dieser Prozess der Bewusstwerdung, das „Sichselbst-unter-Verdacht-Stellen“, so Gstrein in einem Interview, interessiere ihn an einer Erzählerfigur beim Schreiben besonders. Nicht von ungefähr hat Gstrein das Zitat aus einem Song der US-amerikanischen Rockband R. E. M. „That’s me in the corner / that’s me in the spotlight“ diesem Roman als Motto vorangestellt. Nichtsdestotrotz bleibt Jakobs Identität brüchig: „Ich konnte niemandem sagen, wer ich war, und wenn in Zukunft jemand danach fragte, gab es vielleicht eine Handvoll definierender Sätze, die mich angeblich ausmachten und die von Jahr zu Jahr weniger werden würden, bis ich dem Vergessen anheimfiele.“

Gstrein hat diesen konzentriert gebauten Roman mit zahlreichen sozialkritischen Motiven imprägniert. Der Film spielt in El Paso an der Grenze zu Mexiko. Flucht, Gewalt, Drogen, Mädchenhandel und ominöse Frauenmorde in der mexikanischen Grenzstadt Juárez spielen nicht nur in der Realität, sondern auch im Film eine Rolle. Jakob fühlt sich nach einer Fahrt über die Grenze und einem Besuch im Club Catedral selbst schuldig. Von einem Journalisten erfährt er, dass in Juárez die Mädchen in den Bars, arme Fabriksarbeiterinnen, immer wieder Opfer eines Gewaltverbrechens werden. Ihre Leichen verscharrt man notdürftig in der Wüste oder wirft sie auf Müllhalden: „Sie werden umgebracht, weil es keine große Sache ist.“ Niemand kümmert sich darum, wodurch sie automatisch zu „Freiwild“ werden.

Mexikanerinnen, die ein besseres Leben genießen, zeigen keine Solidarität: „In unserer Sprache nennt man sie Erdbeeren. Schön anzusehen und zum Vernaschen.“ Die Brutalität des Geschehens entblößt sich zudem in der Engführung der Filmhandlung mit der des Romans. Just in dem Moment, als in der Wüste eine wilde Verfolgungsszene gedreht wird, taucht am Himmel ein echter Grenzhubschrauber auf, der gerade Flüchtlinge aufgespürt hat. Was mit ihnen passiert, lässt sich aus der Distanz nur erahnen. Gstrein berührt in diesem vielschichtigen Roman erneut Lebensthemen: die Ambivalenz der Heimkehr, Selbstfindung oder die Konfrontation mit der Schuld, die er im Spiegel des Verschweigens und Unter-den-Tisch-Kehrens leise, ohne Pathos, mit psychologischer Schärfe und großer Intensität belichtet. Es sind fragile Gesichter des Lebens, die sich in den Abgründen der Seele auftun: „Ich war das alles und war das alles auch nicht.“

Norbert Gstrein - © Foto: Neumayr / picturedesk.com

Norbert Gstrein

Der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller und Mathematiker wurde 1961 in Tirol geboren, lebt aber inzwischen in Hamburg.

Der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller und Mathematiker wurde 1961 in Tirol geboren, lebt aber inzwischen in Hamburg.

Der zweite Jakob - © Foto: Hanser
© Foto: Hanser
Buch

Der zweite Jakob

Roman von Norbert Gstrein
Hanser 2021 448 S., geb., € 25,70

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