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Publikum vor dem Ankläger

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Als Heinar Kipphardt bei einer Diskussion in der Pädagogischen Hochschule Berlin gefragt wurde, ob er Gemeinsames zwischen dem Beruf des Dramatikers und dem des Lehrers sehe, antwortete er mit einem kategorischen Nein. Ihm komme es darauf an, auf der Bühne spannende Geschichten in all ihrer Kompliziertheit vorzuführen, um unter Verzicht auf vorbereitete Lehren die Zuschauer zu einem vielleicht ungewohnten, intensiven Denkakt zu verführen — und da er Denken zu den amüsanten Beschäftigungen rechne, könne eine solche Art von Theater durchaus auch amüsant, unterhaltend sein.

Darauf ein anwesender Historiker: Mit diesen Ausführungen habe Kipphardt genau die Definition des Lehrers gegeben, die er für sich selbst als verbindlich erachte und zu der er auch seine Studenten führen wolle. — Das Stück nun, das neben Kipphardts „Oppenheimer” in jüngster Zeit am deutlichsten den Zwang zum Nachdenken ausübt, ist das Auschwitz-Oratorium von Peter Weiß. Schon bei seinem Marat- Stück ließ Weiß Thesen auf der Bühne diskutieren, aber die Gespräche zwischen Marat und Sade bewegten sich durchweg auf sozusagen höherem philosophischem Niveau. Das machte das Eindringen der Zuschauer mit eigenen Argumenten schwierig und verwies sie auf die Lektüre. Zudem wurde der Dialog immer wieder durch theatralische Ereignisse überbildert, die die Aufmerksamkeit absorbierten.

„Die Ermittlung” aber ist streng in ihrem Aufbau, szenisch karg; sie sammelt die Aufmerksamkeit, zu eindringendem Versenken immer wieder hinführend. Obwohl es um Unfaßbares geht, bleibt die Befragung der Zeugen und der Angeklagten fast durchweg auf einer sprachlichen und gedanklichen Ebene, auf der auch der einfache Zuschauer ohne Hilfe von Erklärungen und Kommentaren mitreden kann. Immer wieder enden Fragen des Richters oder der Anwälte im Leeren, werden stereotyp, ausweichend beantwortet. An diesen Stellen aber gerät der Zuschauer geradezu unter den Zwang, nun von sich aus zu antworten. Das zeigt sich ganz deutlich an manchen Reaktionen, so etwa, wenn das Publikum höhnisch lacht, sobald Angeklagte vorgeben, sich nicht mehr erinnern zu können, nie etwas davon gewußt zu haben usw. In seinem Lachen stellt das Publikum die Fragen, die der Richter nicht stellt. Dabei begleitet es nicht nur die Bühnenvorgänge, wie es das gewöhnlich tut: es treibt sie von sich aus, und für sich, weiter.

Schwieriger ist es natürlich, die über weite Strecken vorherrschende stumme Anteilnahme des Publikums zu deuten. Ich befragte mehrfach Zuschauer (in verschiedenen Vorstellungen) und erfuhr häufig, was ich auch an mir selber feststellte. Beinahe unablässig steht man während der Aufführung vor Fragen: ist das entschuldbar, akzeptabel, lügt hier wer, was ist zu glauben, wo liegt der Ursprung, ja selbst: wie läßt sich Ähnliches verhindern? Wenn diese Reaktion des Publikums allgemein ist (und ich glaube, daß sie es, zumindest im Ansatz, ist), dann ist Peter Weiß mit seinem Stück vom Auschwitz-Prozeß etwas Großes gelungen: die Einladung zum Denken dringlich zu machen. Er (und die Regisseure und Schauspieler mit ihm) hat dem Zuschauer eine Vorarbeit abgenommen, die von ihm billigerweise nicht in seiner Allgemeinheit zu erwarten war: selber zum Prozeß nach Frankfurt zu fahren. Aber sie haben ihn, und das scheint mir entscheidend, hineingenommen in die Probleme, die dieser Prozeß aufgeworfen hat. Das sehr ernsthafte Anliegen vort Peter Weiß wird allerdings durch das Bekenntnis des Autors zur östlichen Gesellschaftsordnung für viele in Frage gestellt, und wenn er an einigen Stellen seines Stückes Kapitalismus und Verbrechen recht simpel kurzschließt, so unterliegt er einem Irrtum, der nicht passieren dürfte.

Entscheidend aber ist, daß Piscators Berliner Inszenierung auf den notwendigen Denkprozeß des Zuschauers hin angelegt ist; sie hilft (mit Ausnahme der Musik Nonos) den Intentionen des Stücks, ist also gut.

Nota bene: natürlich soll nicht jedes Theater so sein; dieses hier aber ist notwendig.

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