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Roman aus Israel

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GESTERN, VORGESTERN. Roman von Samuel Joseph Aynon. Aus dem Hebräischen von Karl Steinschneider. S.-Fischer-Verlaig, Frank-jurtlMain 1969. 589 Seiten, DM 28.—.

Aus Agnen, zusammen mit Nelly Sachs, 1966 der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde, war er bei uns nahezu unbekannt, obwohl es bereits einige deutsche Übersetzungen von Romanen und Erzählungen dieses großen jüdischen Dichters gab, der zuerst seine Werke in jüdischer, später in hebräischer Sprache geschrieben hat. Man darf hoffen, daß nach der verdienten Auszeichnung, durch die auch nichtjüdische Leser auf Agnons schriftstellerische Bedeutung hingewiesen wurden, sein großer Roman „Gestern, Vorgestern“, der jetzt in einer guten deutschen Übertragung vorliegt die Beachtung finden wird, die ihm zukommt

Der Autor erzählt die Geschichte des jungen Galiziers Jizchak Kummer, eines begeisterten Zionisten, der um die Jahrhundertwende in das Land seiner Väter heimkehrt um dort „den Boden zu bearbeiten“, nach der Zerstörung am Wiederaufbau Israels mitzuhelfen. Aber damals hatte ein jüdischer Arbeiter wenig Aussichten, bei jüdischen Siedlern sein Brot zu verdienen. Sie zogen die billigeren, dumpffolgsamen Araber vor, so daß viele junge jüdische Einwanderer enttäuscht ohne Exlstenamoglich-keit das Land wieder verließen. Jizchak hat mehr Glück als viele seiner Gefährten Er findet einen Malermeister, der sich seiner annimmt und ihn das Handwerk lehrt, das ihm eine bescheidene Existenz sichert.

Bei der Suche nach Arbeit, später bei der Ausübung seines Berufes, begegnet Jizchak vielen Menschen aller Stände, deren Schicksale Agnon in die Geschichte einblendet Wie die meisten seiner Genossen gerät auch Jizchak in den Bann liberaler Strömungen, die ihn das gesetzestreue

Leben aufgeben lassen, das ihm ln seiner galizischen Heimat selbstverständlich war. Aber in Jerusalem findet er, nach vielen Um- und Irrwegen, wieder zurück zu einem frommen jüdischen Leben: .Anscheinend glich er einem Baum mit schwachen Wurzeln; der geringste Wind reißt ihn aus und wirft ihn um. Aber bei gründlicher Betrachtung seines Verhaltens kommen wir zu einer anderen Anschauung. Solanige die Gebräuche in seinen Augen etwas Angelerntes gewesen waren, hatten sie bei ihm nichts gegolten, und dementsprechend hatte er sich jederorts so benommen, wie es gerade dort Sitte war. Als die betrachtende Vernunft in ihm erwachte, änderte sich seine Gesinnung, änderte sich sein Tun. Nicht im Laufe eines Tages, nicht im Verlauf eines Monats oder eines Jahres änderte er die Gesinnung, er wechselte sie Schritt auf Schritt. Nicht erst unter dem Einfluß der Gottesfürchtigen änderte er seinen Sinn; sondern schon zu der Zeit zu der er sich unter seinen Genossen in Jaffa und in den Siedlungen befand, sah er ein, daß die Seele etwas brauchte, was man ihr vorenthielt. Wann ging ihm das auf? Auch hier müssen wir sagen, daß es sich ihm nicht mit einem Mal enthüllte, sondern nach und nach. Aber am Ende wurde er zu einem Baum mit starken Wurzeln, den kein Sturm auf der Welt von Ort und Stelle au rük-ken vermochte ...“ In Jerusalem findet Jizchak auch seine Schifra, die anmutige Tochter eines ungarischen Rabbis, die, nach anfänglichem Widerstand ihrer angesehenen Familie, seine Frau wird. Doch das Glück der beiden ist von kurzer Dauer. Bald nach der Hochzeit stirbt der junge Ehemann infolge des Bisses eines tollwütigen Hundes, der in Jizchaks Leben eine merkwürdige Rolle spielt, ähnlich der des Zauiberpferdes in Mendele Moicher Sforims Erzählung „Die Mähre“ für Srulik, den Helden jener

Geschichte. Wie Sruäik in seinen Gesprächen mit der Stute, wird auch Jizchak durch den Hund Balak angeregt, über Sinn und Unsinn des Lebens nachzudenken und hinter die Dinge zu schauen.

In diesen Zusammenhängen offenbart sich ein für Agnon typischer Zug: Das Ineinanderfließen von Traum und Wirklichkeit, von realen Ereignissen und ihren metaphysischen Ursachen. Das Wunder ist ihm eine vertraute Erfahrung, der er völlig unbefangen einen selbstverständlichen Platz in seiner Dichtung einräumt

Agnon lebt und webt in der uralten Weisheit seines Volkes. Seine Sprache ist geprägt von der des Alten Testamentes, von Talmud und Thora, vom Geist jüdischer Märchen und Legenden und von der Mystik des Chassidismus. Eine altväterliche, umständlich-liebenswerte Prosa, in der der Autor seiner Lust am Fabulieren frönt, vom Hundertsten ins Tausendste gerät. Es gibt keine fortschreitende Handlung — die Komiposition wird von Agnon recht stiefmütterlich behandelt —, aber gerade die unzähligen Abschweifungen geben dem Roman seine Breite und Tiefe

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