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Romane der Sehnsüchte

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DIE FRAU, DIE SICH VERLOR. Roman. Von Willa Cather. Aus dem Amerikanischen von Magda Kahn. Benziger-Verlag, Einsiedeln, Zürich und Köln. 188 Seiten.

Aus Willa Cathers „The Lost Lady” (1923) ist in der ersten deutschen Ausgabe (1949) „Die Frau im Zwielicht” geworden und jetzt, in der zweiten (1959) „Die Frau, die sich verlor”, weshalb man vermuten könnte, es handle sich um ein weibliches Wesen, das auf der abschüssigen Bahn ins Undelikate versinkt. Aber Marrian Forrester sinkt und steigt nur mit dem Pegelstand des Komforts, der ihr zur Verfügung steht. Nach dem Tod ihres ersten Mannes wurde sie eine zu „lustige Witwe”, nach der Heirat mit ihrem zweiten Mann ist sie wieder eine Dame der Gesellschaft geworden. Im Grunde blieb sie, was sie war: ein Sowohl-als-auch und Je-nach-dem. Nur der romantische Niel hatte aus ihr ein Engelchen gemacht in seiner adoleszenten Phantasie. Er war ein Zwanzigjähriger, der etwas zur Anbetung brauchte. Darum mußte sie ihn auch enttäuschen. Sie war nicht, was er meinte; und was sie zu verlieren hatte, war nur ihr Prestige. Sie verlor es, als Hauptmann Forrester sein Geld verloren hatte, sie gewann es wieder, als sie den reichen Collins fand. Es heißt denn auch am Schluß des Romans: „Es war wirklich staunenswert, wie sie wieder in die Höhe gekommen war. Bevor sie Sweetwater verließ, schien sie ja ziemlich am Ende angekommen zu sein.” Sie war auch keine Bovary, die sich an Männer und an die Liebe verlieren konnte und an Illusionen; denn sie spielte nur mit allem, auch mit ihrem Charme und ihrer Nettigkeit und war — wenn man’s genau nimmt — nur ein egozentrisches Dämchen aus der Provinz, das das Bedürfnis hatte, sich in Szene zu setzen. Die Seitensprünge mit Ellinger vorher waren nichts anderes als die Seitensprünge mit Ivy Peters nachher. So, wie sie war. war sie ganz ungeeignet, etwas für eine tragische Historie abzugeben, und Willa Cather hat sie darum wohlweislich nicht von innen, sondern nur von außen gezeigt, als Reflex und in der Perspektive des verzauberten und des enttäuschten Niel und inmitten einer Gesellschaft, die auch im Zwielicht war, im Uebergang, um 1900 ungefähr und in Nebraska.

MARYS LAND. Roman. Von Harold Mead. Aus dem Englischen von N. O. Scarpi. Fretz AAAA Was- muth-Verlag AG., Zürich-Stuttgart. 307 Seiten.

Man könnte versucht sein, Harold Meads Roman für einen utopischen Roman zu halten; für einen nach der Art der Orwell, Huxley oder Kühnelt- Leddihn, denn es ist alles wie in den seit 1935 üblichen Zukunftsromanen und es ist alles wie in Orwells „1984”. Kinder wachsen auf in einem Totalstaat mit Menschenzüchtungsexperimenten; es gibt den Westblock der „Demokratischen Union”, den Ostblock der „Totalisten” und den Block der neutralistischen Asiaten. Sie belauern sich gegenseitig, die Blöcke und die Menschen, und machen sich das Leben sauer. Eines Tages verseuchen die „Demis” das Land der „Totis”; es beginnt im Osten ein großes Sterben, und als die „Demis” nach einiger Zeit das „Totis”-Land besetzen, finden sie nur noch ein paar hundert davongekommene Kinder, darunter acht aus der „Hüterklasse”, also Hochgezüchtete. Sie werden von Oberst Stevenson und seinen Soldaten unterwegs aufgegriffen und kommen ins „Demis”- Land in Quarantäne. Aber dann bricht auf einmal das Unheil auch bei den „Demis” aus und am Ende des Romans besteigen Stevenson, sein Sergeant und die acht Kinder ein Flugzeug und verschwinden hoch über den Wolken in Richtung Südsee. Es heißt jetzt: Rette sich, wer kann; und vielleicht als letztes Ueberbleibsel der untergehenden Menschheit landen die zehn auf einer einsamen Pazifikinsel: Das ist, roh gesagt, der Inhalt der Geschichte.

Also ein utopischer Roman, und dazu noch einer mit Happy-End, was es seit 30 Jahren kaum mehr gab. Aber das Utopische scheint mir doch mehr nur ein Vehikel zu sein, um etwas anderes in Gang zu bringen. Es ist auch keineswegs originell, weich und vage im Umriß und mager in der Binnenzeichnung und mehr nur ein Abklatsch von Orwells Roman, und es wird nur gebraucht (und auch ein wenig mißbraucht), um Spannung zu erzeugen und allerlei dramatische und sentimentale Effekte hervorzubringen. Wesentlich ist etwas anderes. Denn noch im funktionierenden Totalstaat steigt in den Träumen der Hüterkinder ein anderes Land auf, ein Traumland; sie nennen es „Marys Land”. Es ist ein Land der Sehnsucht, ein Land des Guten und Schönen, nicht mehr ein Land der „Totis” oder „Demis”, sondern — obwohl sie das Wort nicht kennen — ein Land „Paradies”. Es ist weit weg, hinter den Bergen und über dem Wasser, und es ist auch das Land, von dem der Fischerjunge in Alfred Anderschs Roman „Sansibar oder der letzte Grund” geträumt hat: die alte Insel „Utopia”. Und das heißt: es steigt wieder die Robinsonsche Schicht herauf und alles, was damit zusammenhängt. Der moderne Utopistenroman wird reversibel, regrediert und sucht den Ausweg in der Phantasie, in der Sehnsucht und in der Flucht. Bei Nossak entweichen die Menschen ins „Unversicherbare” und verschwinden spurlos bei Nacht und Nebel; bei Andersch gehen sie auf den Fluchtweg übers Wasser und entwischen durch ein Loch im Gehege, tauchen unter, gehen in die Wälder; bei Mead aber fliegen sie nach einer Südseeinsel, werden Robinsone und dispensieren sich so von Zeit, Kultur und Zivilisation bzw. dem, was inzwischen daraus geworden ist. Man sieht, es ist dem utopischen Roman von der Mitte unseres Jahrhunderts die makabre Spitze abgebrochen worden, und statt in eine unabsehbar elende Zukunft geht es jetzt Wieder (in dem Roman) einem Paradies entgegen, wie einst, vor hundert Jahren noch, wie damals, als man noch von dem guten Land der Zukunft träumte.

Das hat einerseits zwar mit Literatur zu tun, insofern als Harold Meads Roman gewissermaßen das Verbindungsstück geworden ist zwischen der Utopistenliteratur der vierziger Jahre und der neuen Flucht- und Fluchttraumliteratur, anderseits aber gehört das zur Psychologie und zum Problem der kompensatorischen Traumfunktion, und darum ist dieser Roman bemerkenswert als Symptom.

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