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Seien wir dankbare Leser!

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Um uns zu erfrischen gegen die Dumpfheit und uns zu wappnen gegen den Kleinmut des Alltags, haben wir aus der Hand der Dichter und Denker Gaben erhalten, denen der Wandel der Jahrhunderte nichts hat anhaben können und die aus der Kraft fortströmenden Lebens auch heute noch vermehrt werden. Seien wir darum dankbare Leser!

Dankbarkeit vor allem bewegt uns, wenn wir der Bücher gedenken, die uns durchs Leben begleitet haben. Eine große Quote unseres Erdendaseins haben wir in der Welt der Bücher verbracht, und wenn wir alles in allem nehmen und die vielen Umwege auf unserer Fahrt uns nicht als Schuld zuzurechnen brauchen, da in geistigen Dingen die gerade Linie nicht immer am sichersten und schnellsten zum Ziele führt, so fühlen wir den unermeßlichen Vorzug, der uns geworden ist. Denn der größte Teil der Menschheit durch alle Jahrhunderte ihrer Geschichte hat nicht schreiben und nicht lesen können, und sicherlich lebt auch heute noch die Hälfte der Erdenbewohner ohne Bücher. Die Völker haben auch so Gutes und Böses in die Welt gesetzt, aber nur wenig Kunde gegeben von dem, was in ihnen lebte. Wir dagegen haben von Jugend an, seit man uns die Fibel in die Hand gegeben hat, am geschriebenen und gedruckten Worte uns gebildet, uns erfreut und gestählt und aus ihm Kräfte geschöpft für ein denkendes und tätiges Leben.

Es ist wahrhaftig ein unermeßliches Gebiet, das sich vor uns auftut, wenn wir daran denken, was alles im Leben und in der Geschichte das gesprochene und — dauernder noch — das geschriebene und gedruckte Wort bewirkt hat. Denn Kunst und Gedanke verwandeln sich in Taten; sie bestimmen den Lebensinhalt, aus dem Menschen und ganze Völker zu Taten aufbrechen. Daher sind Denker und Künstler, sind die Bücher verantwortlich vor der Geschichte. Hölle, Fegefeuer und Himmel künden von den Gewalten, die durch Bücher entfesselt werden. Oft schon ist ein ganzer Erdteil in Flammen aufgegangen, wenn einer wie der Don Quijote beschloß, das, was er lesend gelernt hatte, handelnd zu unternehmen. Wer aber gar mit Ernst und Urteil das Bestehende prüft, wird den Machthabern verdächtig. Cassius liest viel, heißt es im Julius Cäsar des Shakespeare: „das ist es, was ihn so gefährlich macht“. Auch Cäsar selbst und Napoleon haben viel und mit leidenschaftlicher Vorliebe gelesen, die Literatur hoch eingeschätzt als ein Mittel, auf die Menschen zu wirken. Aber der edelste Ertrag ist dort, wo die Lektüre unabhängig von den Geschäften gepflegt wird und der Mann dadurch auch in seinen Geschäften menschlicher wird, so daß Amt und Erwerb ihn nicht ganz verbrauchen oder verhärten.

Erst in der Einsamkeit wahrhaftig lernt man ganz den Erfinder der Bücher preisen. Nur wenn wir den Willen haben und uns die Gelegenheit schaffen — sei es auch nur für wenige Stunden —, aus den Stürmen der Welt zu flüchten und unsere Ansprüche an den Betrieb des Lebens, an Erfolge, Fortschritt und Tempo zu vergessen, können wir im Umgang mit den Büchern Trost, Stärke und Heiterkeit gewinnen. Das eben sind die herrlichsten Stunden, die wir dem Buche verdanken, wenn wir bloß um des Wissens und der Erweckung willen lesen, nicht immer nur Material suchen, um es zu verwerten. Viele von uns werden durch die Forschung ganz in Spannung gehalten, sie kennen nicht den unendlichen Reiz der sich selbst genügenden Lektüre. Die Bücher, die den Mann der Wissenschaft umgeben, bilden seine Arbeitsbibliothek; aber zum Glück fehlen in gelehrten und ungelehrten Berufen auch nicht die anderen Leser, die lediglich zum Vergnügen ihres Geistes und ihres Herzens sich in das Buch versenken. Dies ist die fruchtbarste Lektüre, die ganz sich hingibt dem Lesen und dem Meditieren, die Sorgen des Alltags daryber vergißt und den Geist nährt und kräftigt mit köstlicher Speise. Ein ,,nutri-mentum Spiritus“, eine Nahrung des Geistes sind die Bücher den alten Griechen und Römern gewesen, sie sind es auch uns.

Aus dem „Bilderkreis“-Bändelten „Das Buch“ (Verlag Herder)

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