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Selbstkritik mit Hindernissen

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Es ist wohl unvermeidlich, daß sich die Deutschen am deutlichsten deutsch benehmen, wenn sie die eigene Kriegsschuld untersuchen; damit meinen wir die grenzenlose Gründlichkeit. Nach dem ersten Weltkrieg haben sie sich gewundert, daß in aller Welt das Publikum an die deutsche Kriegsschuld glaubte — und es hatte doch das deutsche Außenministerium die Beweise der deutschen Unschuld in, ich glaube 58 Quartbänden für Jedermann handlich und faßlich veröffentlicht... Diesmal folgt in einer Neuen Bibliothek auf andere einschlägige Bände einer von 506 Seiten über beiläufig dasselbe Thema. Nur ist die Tendenz etwas anders geworden.

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Es ist wohl unvermeidlich, daß sich die Deutschen am deutlichsten deutsch benehmen, wenn sie die eigene Kriegsschuld untersuchen; damit meinen wir die grenzenlose Gründlichkeit. Nach dem ersten Weltkrieg haben sie sich gewundert, daß in aller Welt das Publikum an die deutsche Kriegsschuld glaubte — und es hatte doch das deutsche Außenministerium die Beweise der deutschen Unschuld in, ich glaube 58 Quartbänden für Jedermann handlich und faßlich veröffentlicht... Diesmal folgt in einer Neuen Bibliothek auf andere einschlägige Bände einer von 506 Seiten über beiläufig dasselbe Thema. Nur ist die Tendenz etwas anders geworden.

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Den zweiten Weltkrieg hat Deutschland nicht nur verloren, es wurde nachher auch aufgeteilt und „reedu-cated“. Es gibt also im Uberfluß Autoren, welche den Leitern Deutschlands von 1914 die Schuld, womöglich die ganze Schuld aufladen wollen. In Ostdeutschland schon gar! — Obwohl natürlich auch der Verfluchte Zarismus sein Teil abbekommen muß. Jene Autoren, die ihr Weltbild vom Marxismus beziehen, geben sich auch deutlich zu erkennen; es gibt ein Vokabular, das ganz unverkennbar ist und in weniger intelligenteren Exemplaren zu übersetzungsbedürftigem Parteichinesisch entartet. An vorliegendem Band dagegen haben lauter kluge Leute mitgearbeitet, und die haben sich eine interessante Methode zurechtgelegt.

Eindeutig ist die ganze Sache ja doch nur für vorbehaltslose Skribenten der extremen Linken (oder für chauvinistische Fossilien anderseits). Jeder informierte, jeder gewissenhafte Forscher wird den Belegen für deutsches Machtstreben und deutsche Kriegsschuld entgegenhalten, daß 1. ceteris paribus, nämlich mit rechtlichen Mitteln, die Deutschen genauso nach Macht streben durften wie Russen, Franzosen, Japaner usw. und daß 2., wo es nicht mit rechten Dingen zuging, Belege für Schweinereien auch auf Seite der Entente zu finden sind. Was machen wir da? Zu einem eindeutigen Urteil kommen wir ja doch nicht.

Es wurde also ein Sammelband gemacht, zu dem ausländische Autoren und Deutsche sehr verschiedener Ansicht geladen wurden. Das dient gewiß der Objektivität, das ist sogar irgendwie bewundernswert, macht aber die Lektüre zu einer Schwerarbeit. Man darf in dem Band beileibe nicht blättern, sondern muß immer eingedenk sein: Jetzt spricht Bethmann-Hollwegs Ankläger, jetzt sein Anwalt. In der einschlägigen Forschung ist nämlich ein Streit um den Reichskanzler von Juli 1914 entstanden, der auch hier ausgetragen wird — mit jener deutschen Gründlichkeit, die eben auch ihn selbst im Guten und Bösen kennzeichnete. — Dabei ist den Deutschen ein besonderes Pech passiert. Bei der faszinierenden Tätigkeit über Kriegsschuldaufrechnung kann man in jedem Volk Annexionisten nachweisen, welche den eigenen mit unmöglich-

sten Forderungen schmeichelten. Es zeigt sich glücklicherweise meistens, daß sie als Sonderlinge, als Spin-nerte galten. (So der alte Kuffner, der „unser slawisches Wien“ für die Tschechoslowakei vindizierte.) Dagegen war Riezler-Ruedorffer ein Spezi von Bethmann-Hollweg; das erleichtert den Anklägern die Arbeit wesentlich. Diese Diskussionen, die Belegstellen dazu, sind jedenfalls hochinteressant zu verfolgen. Den österreichischen Leser wird vielleicht manches verdrießen. Das fängt schon damit an, daß der österreichi-

schen Außenpolitik kein eigenes Kapitel gewidmet ist, sondern nur ihre Beziehung zur deutschen geschildert wird. Dies aber geschieht in recht unfreundlichem Geiste. Es wird irgendwie vorausgesetzt, daß die Monarchie die Möglichkeit hatte, ja die Pflicht, den Serben annehmbare Forderungen zu stellen. Liest man diese Auffassung der österreichischen Reaktion auf den Mord von Sarajewo, dann fragt man sich, was wohl das Lager des Friedens heute anfangen würde, wenn ein junger Amerikaner nicht etwa Herrn Kossy-gin, sondern den Portier auf dessen Datscha totschießen würde. Ja, Arbeiter und Bauer! Das ist was aanz anderes! Die Monarchie war ja doch zum Untergang verurteilt. Mag schon sein ... Aber von wem? Doch damit kämen wir auf ein anderes Thema. Das vorliegende Buch will ja deutsche Geschichte behandeln, die Zitate sind, wie in jedem guten Geschichtsbuch, das Interessanteste daran.

ERSTER WELTKRIEG Ursachen, Entstehung und Kriegsziele. Heraus* gegeben von Wolf gang S chider. Neue Wissenschaftliche BibJiö-thek 32, Geschichte. Kiepenheuer & Witsch, Köln-Berlin, 1969. 506 Seiten. DM 26.—.

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