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So lebte und so lebt der Russe

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SO LEBTEN DIE RUSSEN zur Zeit der letzten Zaren. Von Henri T r o y a t. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart. 251 Seiten. Preis 14.80 DM.

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SO LEBTEN DIE RUSSEN zur Zeit der letzten Zaren. Von Henri T r o y a t. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart. 251 Seiten. Preis 14.80 DM.

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Bei Büchern über Rußland ist es besonders wichtig, die Autoren zu kennen. Henri Troyat ist der Schriftstellername von Torossi Antarassow, der 1911 in Moskau geboren wurde und dem wohlhabenden russischen Großbürgertum entstammt. Seine Eltern emigrierten während der Revolution, und Paris wurde seine zweite Heimat. Hier hat er seit 1935 in französischer Sprache etwa zwei Dutzend Romane geschrieben. Aber sein Buch über das ehemalige Rußland basiert nicht nur auf den nostalgischen Jugendeindrücken des Emigranten, sondern auch auf dem Studium umfassender Werke über die russische Kultur und Geschichte sowie über die sozialen Verhältnisse im großen Zarenreich. Das vorliegende Werk hat einen quasi belletristischen Rahmen: Ein junger Franzose kommt im Jahr 1904 zu Geschäftsfreunden nach Moskau und wird von diesen in die russische Gesellschaft eingeführt, wo er aber bald auch eigene Beobachtungen macht, ln seinen Aufzeichnungen berichtet Jean Roussel über das Moskauer Stadtleben, die Orthodoxe Kirche, die Arbeiter, die Armee, die sozialen Klassen und den Staatsapparat, über das Justizwesen, den Zarenhof, über St. Petersburg und die soziale Lage der Bauern. Troyat schildert das alles ohne das Ressentiment des Emigranten, dem alles das, was war, in verklärendem Licht erscheint. Neben dem Zauber, den das patriarchalische Leben im alten Rußland ausstrahlt, wird auch die kaum vorstellbare Not der unteren Schichten geschildert. Aber Troyat weiß auch von vielen sozialen Einrichtungen, für die es um jene Zeit in westlichen Staaten kaum eine Parallele gibt, so von den Waisen- und Findlingshäusern, von den Arteljs der Handwerker (etwa den Zünften vergleichbar), von den Semstwo-Verwaltungen und anderen karitativen und sozialen Einrichtungen. Nach der Lektüre des Buches von Troyat weiß man in der Tat wesentlich mehr vom alten Rußland, als man vorher aus der Lektüre zahlreicher belletristischer Werke erfahren hat. Wer seine Kenntnisse weiter bereichern will, sei auf die folgenden grundlegenden Bücher hingewiesen: Hugh Seton-Watson: „Der Verfall des Zarenreiches 1855 bis 1914”, erschienen 1954, Wladimir Weidle: „Rußland. Wege und Abwege”, 1956, und W. H. Chamberlin: „Die russische Revolution”, 1958.

GESPRÄCHE IN MOSKAU. Von Gerd Rüge. Verlag Kiepenheuer & x0026; Witsch. 357 Seiten.

Der heute 34jährige deutsche Journalist Gerd Rüge ging 1956 als erster ständiger Korrespondent aus der deutschen Bundesrepublik nach Rußland und ist vor allem durch zahlreiche Berichte für westdeutsche Rundfunkstationen bekannt geworden. Gerd Rüge lebte drei Jahre in Moskau und unternahm von dort mehrere große Reisen, die ihn bis weit ostwärts an die Grenze der UdSSR führten. In dem vorliegenden Buch berichtet Rüge weniger über weltpolitische Probleme als vielmehr davon, wie sich die Politik im Leben des Sowjetbürgers widerspiegelt, wie sie die private Sphäre beeinflußt und wie der Sowjetmensch. tant bien que mal, mit ihr fertig wird. Der erste Teil des Buches enthält Aufzeichnungen über Gespräche, die der Autor mit vielen einzelnen Menschen in Moskau geführt hat. Obwohl sich Rüge vor einer Schwarzweißzeichnung fernhält, ist der Gesamteindruck doch recht nieder- drückend. (Man kann aus Ruges Aufzeichnungen schließen, daß er die russische Sprache so weit beherrschte, daß er keinen Dolmetscher benötigte.) Am interessantesten ist das Kapitel „Kultura”, in dem Rüge ausführliche Protokolle über Interviews mit Vertretern des sowjetischen Komponistenverbandes, mit dem Generalsekretär des Schriftstellerverbandes, mit dem diplomatisch zurückhaltenden Dudinzew, dem sich wesentlich freier äußernden llja Ehrenburg und anderen wiedergibt. Von besonderem Interesse sind auch Ruges Aufzeichnungen über seinen Besuch im Kloster des heiligen Sergius in Saborsk, wo er den Archiman- driten Pimen aufsuchte. Die Quintessenz seiner Beobachtungen auf diesem Gebiet ist, daß das zweifellos rege religiöse Leben und Interesse in der Sowjetunion nicht den offiziellen, vom Staat anerkannten Religionsgemeinschaften zu danken ist, sondern den ungezählten Sekten, die weniger staatsfromm, aber dafür aktiver und fanatischer sind. Sehr eindrucksvoll ist Ruges Schilderung des vorsichtig und diplomatisch agierenden „Rates für Angelegenheiten religiöser Kulte”. Ebenso wichtig ist seine Beobachtung, daß, je weiter man sich von der Intourist-Route entfernt, um so größer die Freiheit des einzelnen Sowjetbürgers wird. In die entferntesten Kolchosen und Kulturzentren an der östlichen Grenze reicht der starke Staatsarm nur gerade noch mit seinem kleinen Finger. Hier herrschen schon asiatische Verhältnisse, aus denen der Reisende nach Moskau wie in eine westliche Metropole zurückkehrt …

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