6772114-1969_07_01.jpg
Digital In Arbeit

,Umfunktionierung'?

19451960198020002020

Alljährlich im Frühling beginnen Scharen älterer Amerikanerinnen die europäischen Städte zu bevölkern. Sie sind gewissermaßen an ihrer Uniform kenntlich: kühne, bunte Hütchen, überdeutliches Make-up, auffällige Kleidung, betont jugendliches Gebaren. Es sind Geschöpfe, die den Jugendkomplex Amerikas ebenso wie die Verdrängung des Phänomens Alter und Tod, wie man sie aus der Neuen Welt gewohnt ist, repräsentieren. An sie erinnern bei uns Zeitgenossen, die da „Jugend“ auf ihre Fahne geschrieben haben, die sich geradezu krampfhaft bemühen, sich nicht nur im Denken, sondern auch in der Ausdrucksweise den Jungen anzupassen. P olitiker gefallen sich in dieser Haltung, der Jugend nach dem Mund zu reden; In t e 11 e k-1 u e 11 e klagen sich schuldbewußt an, den Jungen eine schlechte Welt zu hinterlassen, man klopft sich wegen der „unbewältigten Vergangenheit“ unentwegt an die Brust; ergraute P u b 1 izi S ten eifern ihren radikalen Söhnen nach und haben den Kampf gegen das Establishment“ zu ihrer Sache gemacht.

19451960198020002020

Alljährlich im Frühling beginnen Scharen älterer Amerikanerinnen die europäischen Städte zu bevölkern. Sie sind gewissermaßen an ihrer Uniform kenntlich: kühne, bunte Hütchen, überdeutliches Make-up, auffällige Kleidung, betont jugendliches Gebaren. Es sind Geschöpfe, die den Jugendkomplex Amerikas ebenso wie die Verdrängung des Phänomens Alter und Tod, wie man sie aus der Neuen Welt gewohnt ist, repräsentieren. An sie erinnern bei uns Zeitgenossen, die da „Jugend“ auf ihre Fahne geschrieben haben, die sich geradezu krampfhaft bemühen, sich nicht nur im Denken, sondern auch in der Ausdrucksweise den Jungen anzupassen. P olitiker gefallen sich in dieser Haltung, der Jugend nach dem Mund zu reden; In t e 11 e k-1 u e 11 e klagen sich schuldbewußt an, den Jungen eine schlechte Welt zu hinterlassen, man klopft sich wegen der „unbewältigten Vergangenheit“ unentwegt an die Brust; ergraute P u b 1 izi S ten eifern ihren radikalen Söhnen nach und haben den Kampf gegen das Establishment“ zu ihrer Sache gemacht.

Werbung
Werbung
Werbung

Sie alle sollten in den „Gesprächen mit dem Teufel“ nachlesen, die der nonkonformistische polnische Philosoph Leszefc Kolakowski kürzlich veröffentlicht hat. Das was der Teufel den progressiven Katholiken vorwirft, das gilt auch für jene sich an die Jugend anbiedernden Erwachsenen:

„Läge mir wirklich an Ihrem Schicksal, meine Herren, es wäre mir eine wahre Lust, Ihnen Ihr Elend, die bemitleidenswerten Bemühungen vor Augen zu führen, mit denen Sie einer Zeit gerecht werden wollen, die Ihnen ständig um tausend Meilen voraus ist.“ Wenn jemand in späteren Jahrhunderten einmal die Äußerungen unseres „Zeitgeistes“ unter die Lupe nimmt, so wird er vor allem zwei Eigenschaften entdecken: erschrek-kend vulgär und erschreckend unreif. Das ist nicht, zuletzt auch die Folge einer Vergötzung des Begriffes Jugend, die gar nicht so sehr von den Jungen ihren Ausgang nahm.

Schon der große Russe Turgenjew hat gesagt, daß, hätte in seiner Jugendzeit irgend einer seiner Altersgenossen Respekt für die jüngere Generation gefordert, man ihn ganz gewiß ausgelacht hätte. Nun, Turgenjew mag, manchem als Reaktionär gelten. Was aber sagt einer, der die Revolution gepredigt hat, der ehrliche, anständige deutsche Nationalbolsohewik Ernst Niekisch.? „Sache der Jugend ist es, zu lernen, auszureifen. Wo man die Jugend prinzipiell zur Führerschaft erwählt, stehen alle Dinge auf dem Kopf, und es ist kein Wunder, wenn alles im Chaos endet.“

Zu den wohl dümmsten Schlagwörtern unserer Zeit, die offenbar ohne Modeworte nicht auskommen kann,zählt das vom „Establishment“. Ein evangelischer Pfarrer, der sich seinen Sinn für einfache Formulierungen bewahrt hat, hat das treffend mit folgenden Worten umrissen: „Establishment — man müßte schwierige Prüfungen ablegen und etwas arbeiten, um sich daran zu beteiligen. Da ist rnain lieber prinzipiell dagegen.“

Was ist dieses gelästerte „Establishment“ in Wirklichkeit? Im Grunde zählen alle jene Menschen dazu, die nötig sind, damit unsere äußerst empfindliche und komplizierte Gesellschaft und Wirtschaft funktionieren können, also Lehrer, Beamte und Bauern, Industrielle und Facharbeiter, Professoren und Ärzte, ja selbst, horribile dictu, Politiker. Sie alle tun nach den besten Kräften ihre Pflicht, mit Reibungsverlusten und Energieverschwendung, auch mit menschlichen, allzu menschlichen Intrigen und Denunziationen, so, wie das — nehmt alles nur in allem — eben die Welt und die Menschheit ausmacht. Die meisten Soziologen und Politologen, die sich so sehr dem Menschen verpflichtet fühlen, vergessen, daß der Mensch ein Wesen ist, das aus seiner Natur heraus nur schwer im Sinne einer Utopie „umfunktioniert“ werden kann. Das übersehen zumeist auch die progressiven Theologen, die am liebsten den Begriff der Sündigkeit des Menschen abschaffen möchten. In dem Rahmen dieser Aufführungen paßt darum sehr wohl eine Stelle aus dem Roman „Kapuzinergruft“ des unglücklichen Joseph Roth, weil sie, über die Aussage für die katholische Kirche hinaus, eine der reifsten Formeln für die ewige „conditdon humaine“ ist:

„Die römische Kirche ist in dieser morschen Welt noch die einzige Förmgeberin, Formhalterin. Ja, man kann sagen, Formspenderin. Indem sie das Traditionelle des sogenannten .Althergebrachten' in der Dog-matik einsperrt, wie in einem eisigen Pallast, gewinnt und verleiht sie ihren Kindern die Freiheit, ringsum, außerhalb dieses Eispalastes, der einen weiten, geräumigen Vorhof hat, das Lässige zu treiben, noch das Verbotene zu verzeihen beziehungsweise zu führen. Indem sie Sünden statuiert, vergibt sie bereits diese Sünden. Sie gestattet geradezu keine fehlerlosen Menschen: dies ist das eminent Menschliche an ihr. Ihre tadellosen Kinder erhebt sie zu Heiligen. Dadurch allein gestattet sie implicite die Fehlerhaftigkeit der Menschen. Ja, sie gestattet die Sündhaftigkeit in dem Maße, daß sie jene Wesen nicht mehr für menschlich hält, die nicht sündhaft sind: Die werden selig oder heilig. Dadurch bezeugt die römische Kirche ihre vornehmste Tendenz, zu verzeihen, zu vergeben.“

Aber die Gefahr liegt auch noch anderswo: In einer Zeit, die so sehr vom Wissen und vom Intellekt abhängig ist, wird die Kluft zwischen den Intellektuellen und „dem Volk“ — wieder — größer. Denn öffentliche Meinung ist bekanntlich nicht dasselbe wie veröffentlichte Meinung. Das mögen sich jene gesagt sein lassen, die leichtfertig glauben, das Spiel „Die Intellektuellen proben den Aufstand“ spielen zu können.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung