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Ungarische Schattenbilder

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Über Ungarn lastet finsteres Gewölk. Zuweilen nur zuckt ein Blitz auf, der das Dunkel für einen Augenblick erhellt und einzelne Gestalten dem Auge deutlich macht. Dann fällt wieder Dunkel und tödliches Schweigen über das einst gesegnete Land der Stephanskrone.

Mit allen Mitteln der Gesetzgebung, der Verwaltungstechnik und der Polizeipraxis, über die der omnipotente Staat verfügt, wird jetzt der Versuch gemacht, das kirchliche und soziale Gefüge des ungarischen Katholizismus zu zersprengen. Schon die Bodenreform hatte zahlreichen religiösen, kulturellen, karitativen und sozialen Einrichtungen die wirtschaftliche Lebensgrundlage entzogen. Die katholische Presse verschwand bis auf ein einziges Wochenblatt. Die Organisationen der Katholiken wurden als „faschistisch" verfemt und unterdrückt. Das blühende katholische Schulwesen des Landes, seit Jahrhunderten Pflegestätte der Bildung und Kultur, ist in Zertrümmerung begriffen. Bi in den Kirchenraum dringt die Verfolgung. Unter den Kanzeln stehen die Aufpasser der Polizei. Das Wort Gottes steht unter Kontrolle und ist tendenziösen, zweckbewußten Mißdeutungen ausgesetzt. Denn es gilt den Mut einer freien Kirche zu brechen. Mehr als 60 katholische Priester sind bereits — wie Kardinal Mindszentv in einem Interview feststellt — verhaftet, einige von ihnen ins Ausland unter einem schrecklichen Schicksal verschleppt worden. Dem Kardinal, gegen den sich der höchste Ingrimm des Systems wendet, wagte man bisher noch nicht anders als durch eine Art Konfinierung zu begegnen; eine Verlän-gening seines Reisepasses wurde abgelehnt und seine Fahrt zum Kölner Domfest verhindert.

Jeder Tag bringt neue persönliche Verfolgungen, die man „Säuberungen" des Staatsapparats nennt. Jeden Tag schwillt die Flut des Unheils höher, die sich aus einem volksfremden, erbarmungslosen Herrschaftsapparat über das unglückliche Land ergießt. Nach altem Brauche abgehaltene kirchliche Prozessionen sind in den letzten Wochen in den Straßen der Hauptstadt mit Polizeigewalt auseinandergejagt worden.

Man möchte fragen, wie ein solches Regime gegen den Willen der unzweifelhaften großen Mehrheit der Bevölkerung die Macht gewinnen kann. Es gehört zu seinem Wesen, seine Eroberungen nicht durch die gewohnten demokratischen Methoden, denen leicht begegnet werden könnte, zu erreichen, sondern durch ein raffiniertes Erspähen der kranken Glieder eines politischen Organismus. Hätte es in Ungarn nicht Männer gegeben, welche als politische Führer die wichtigsten Bastionen des öffentlichen Lebens dem Angreifer für hohe Würden und noch konkretere Annehmlichkeiten überliefert hätten, niemals hätte das ungarische Volk überwältigt werden können. Unter ihren Figuren ist keine für das Verständnis der Entwicklung aufschlußreicher als Zol- tan Tildy, der kürzlich zurückgetretene Präsident der ungarischen Volksrepublik . Der Lebenslauf dieses Mannes ist ein einziger Bericht von Gesinnungslosigkeit und Verderbtheit. Von Beruf kalvinischer Pfar- der, übernahm Tildy unter der Schreckensherrschaft Bela Kuns das Amt des Sekretärs einer angeblichen aus einigen kalvinischen Geistlichen bestehenden kommunistischen

Hiezu ein materialgesättigter Artikel eines Sonderkorrespondenten der „Neuen Zürcher Nachrichten" in Nr. 179 vom 3. August.

„Priestergewerkschaft“. Zu dieser Rolle hatte er sich durch seinen Schwiegervater, einen Landlehrer, bewegen lassen, der als Vorsitzender eines der Blutgerichte der Bela- Kun-Herrschaft mit terroristischen Todesurteilen unter der Bauernschaft der Theiß- gegend wütete. In dem Durcheinander der Aufräumungsarbeiten nach dem Ende der Räteherrschaft gelang es Zoltän Tildy unterzutauchen und vergessen zu werden, obwohl der Prozeß gegen seinen Schwiegervater und dessen Hinrichtung noch einige Zeit die Aufmerksamkeit auf dieses Familienmilieu lenkte. So gut gelang in dieser Zeit Zoltän Tildy die Verwandlung, daß er nach einigen Jahren als frommer geistlicher Berater und Freund des Reichsverwesers Horthy wieder salonfähig wurde. Und hier begann seine neue Karriere: er wurde Politiker, Parlamentarier, Mitglied der Kleinen Landwirtepartei. Es war sein Schaden nicht. Bei der Verteilung des beschlagnahmten jüdischen Grundeigentums während des Krieges fiel selbstverständlich auch dem verdienten Volksmanne Zoltän Tildy ein seiner Bedeutung gebührendes Stück Land zu. Seine Wendigkeit und sein Geschick, an seinen zahlreichen stillen Geschäften auch andere teilnehmen zu lassen, verschaffen ihm steigenden Einfluß in der Kleinlandwirtepartei und noch im Zeichen der Pfeil- kreuzlerherrschaft erstieg er — der spätere Großwürdenträger der kommunistischen „Volksdemokratie“ — den Präsidentenstuhl der Partei, eine Würde, von der aus vor zwei Jahren der Sprung zur Präsidentschaft der Republik fast nur mehr eine Automatik war. Denn diejenigen, die ihn in dieses Amt lotsten, kannten ausgezeichnet seine Schwächen, seine pastorale Unwürde, seinen Ehrgeiz und seine kaufmännischen Unternehmungen. Das war der Mann, den sie brauchten. Denn in diesem Zoltän Tildy gab es seit langem keine Stimme des Gewissens mehr.

Sie täuschten sich nicht: er half ihnen getreulich, seine Partei, die zuvor größte, wie ehern erscheinende des Landes, zu zerfetzen. Dieser Präsident der ungarischen Republik unterschrieb ihnen alle Todesurteile über Söhne Ungarns. Und was wollte er auch tun? Seine Sünden hatten ihn in ihre Hand gegeben.

Aber dann überkam ihn langsam doch die Angst, die Furcht vor dem Abgrund. Er dachte an Flucht, ließ durch seinen Schwiegersohn Viktor Czornoky, der bis jüngst trotz seinen 28 Jahren ungarischer Gesandter in Ägypten war, Fluchtwege erkunden, für ein Asyl im Ausland sondieren. Tildys Gattin weilt schon längere Zeit in der Schweiz. Der junge Gesandte, noch nicht genügend geschult in den Künsten des Systems, dem er diente, wußte nicht, daß ihn Rakosis Geheimpolizei beschattete. Ihn ereilte das Schicksal, als er, nach Budapest zurückberufen, plötzlich die Falle hinter sich zuschnappen und wegen Untreue und Verschwörung die Hochverratsbeschuldigung gegen sich geschleudert hörte. Seiner Verhaftung folgte das klägliche Rücktrittsgesuch Zoltän Tildys, der seine Fluchtpläne und vielleicht noch Kritischeres enthüllt sah. Um sich vielleicht noch zu retten, zögerte er nicht, so wie er seine Parteifreunde und das ungarische Volk verraten hatte, nun auch seinen Schwiegersohn zu verraten und über dessen „schwere Verbrechen gegen die ungarische Republik“ Klage zu führen.

Zoltän Tildy — das Bild eines ehrgeizig immer höher Steigenden . und gleichzeitig immer tiefer Sinkenden. Die Folgen seines politischen Glücksrittertums lasten schwer auf dem unglücklichen ungarischen Volke. Und doch trägt es, wie ein Schweizer Beobachter einmal schrieb, „eine Sicherheit zur Schau, die der Gewißheit entspringt, daß auch der heutigen Herrschaftsform nicht eine ewige Dauer beschieden sein wird“.

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