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Versuchung in Deutschland
Der Fall Otto John hat das Sicherheitsgefühl der Bundesrepublik zutiefst getroffen. Dies ist auf den ersten Blick ein wenig unverständlich. Zunächst ließe sich ja nachweisen, daß die Weltgeschichte im allgemeinen von den Ergebnissen der Spionage und den Resultaten des Verrats nicht viel zu halten scheint: Hatte die Tat des Oberst Redl den Russen viel genutzt? Wußten die Holländer und Belgier nicht das » deutsche Angriffsdatum und wurden dennoch überrascht, entging die US-Flotte der Verstümmelung vor Pearl Harbour, -weil man den japanischen Marineschlüssel lesen konnte, waren den Deutschen die Originalprotokolle von Jalta von Nutzen? Aber es ist nicht nur das. John wußte von den entscheidenden Geheimnissen gewiß sehr wenig, und es ist nicht einmal sicher, daß er drüben „ausgepackt" hat, wie man es so schön nennt.
Woher dann die Furcht und Unruhe?
Die deutsche Bundesregierung hat einen Preis von 500.000 DM für den ausgesetzt, der imstande ist, den Fall Otto John restlos zu erhellen. Das ist entweder zuviel oder zuwenig. Zuviel, wenn sie den Fall als eine rein kriminelle Episode ansieht, zuwenig, wenn sie ihn als ein Phänomen der seelischpolitischen Dämmersphäre erkennt und begreift, daß seine restlose Erhellung letzthin die Aufbrechung eines Persönlichkeitskernes bedeuten würde, die alle Tiefen und Höhen und alle Gewalten der menschlichen Existenz freilegen müßte.
Lange bevor in der Bundesrepublik dieses Problem zu einer so traurigen Aktualität gelangte, stand man im Westen vor ähnlich rätselhaften Erscheinungen, und aus dieser Zeit liegt eine ungemein scharfsinnige Studie der bekannten Schriftstellerin Rebecca West vor, die unter dem Titel „The meaning of treason"erschienen ist. Auch hier wird das Geheimnis nicht restlos geklärt, aber man begreift zumindest die Gründe für die anfänglichen Mißerfolge des staatlichen Sicherheitsapparates, der in England unter den Buchstaben MI 5 bekannt ist. Es sind im wesentlichen Gründe psychologischer Natur, die die Ueberwachungstätigkeit mit falschen Akzenten, die Mißt.rauensbildung mit fair sehen Schwerpunkten versahen. Die Gleichsetzung: Verräter = krimineller Verbrecher und: Abtrünniger = gekaufte Kreatur entspricht sicherlich dem populären Wunsch, in einem Menschen, der einem furchtbar geschadet hat, auch ein moralisches Monstrum zu sehen. Der Kampf gegen Delikte dieser Art wurde dadurch nicht erleichtert. Bildlich gesprochen kann man die Klaus Fuchs’ und Alger Hiß’ dieser Welt nicht entlarven, wenn man auf sie in verrauchten Anarchistenkneipen lauert, um sie dabei zu er-
tappen, wie sie sich zerknüllte Rubelscheine in die Tasche stecken lassen.
Daß die deutsche öffentliche Meinung und Publizistik auf den ersten Verratsreiz sich ebenfalls dieser irreführenden Gleichsetzung in die Arme warf, kann nach den im Westen gemachten Erfahrungen nicht weiter verwundern. Aber es geschah mit einer solchen Leidenschaft und Heftigkeit, mit einem da und dort ganz deutlich mitschwingenden Unterton von Erregung, ja Hysterie, daß man unwillkürlich stutzig wird und nach den Tiefenimpulsen dieses Aufgewühltseins zu forschen beginnt. Bereits wenige Tage, nachdem der Präsident des Verfassungsschutzamtes übergelaufen war, erschien in den Zeitungen ein Material, das ausgereicht hätte, eine ganze Kleinstadt wegen Verrats ins Zuchthaus und wegen moralischer Defekte aller Art in übelsten Verruf zu bringen: englischer Agent, russischer Agent, Verrat in London, Homosexualität in Köln, Mord in der Schweiz, rote Kapelle, russisches Geld, Gestapoagent, nein, nicht Gestapoagent, dort hatte er sich nur angetragen, war aber nicht für gut genug befunden worden! Die Aufforderung, nun zu säubern, also nach östlichem Muster das gesunde mit dem kranken Fleisch herauszuschneiden, schloß sich an, und zum Schluß behauptete noch der Prinz zu Löwenstein, daß John auch den 20. Juli verraten hatte, wofür er, wie andere auch, den Beweis schuldig bleiben wird .. . All das zeigte: es ist keine Atmosphäre, in der die überragende Kraft des Westens sich in einer 'freien geistigen Auseinandersetzung entfalten kann. Niemand fand es eigentlich der Mühe wert, Johns grundsätzlichen Argumentationsfehler aufzudeoken, ihm nachzuweisen, daß man nach zehn Jahren den Nazismus nicht mehr als personelles, sondern nur mehr als sachliches Problem sehen kann, oder ihn zu fragen, wo eigentlich in der Bundesrepublik die Dämme der Rechtsstaatlichkeit unterspült oder eingebrochen wä ren.
Was blieb, waren schematische Antworten, die zum Teil noch widerlegt werden konnten. Statt daß man John gezwungen hätte, zu sagen, wie es denn um die Freiheiten, um die er einmal gestritten, nun im Osten bestellt sei, bemerkte man höhnisch, er hätte den Nazismus doch in seinem Kölner Amt am besten bekämpfen können, leugnete aber gleichzeitig keinesfalls, daß der Innenminister ihn vor Journalisten als Abschußkandidaten qualifiziert hatte.
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