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Von Zar zu Zar

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RUSSISCHE GESCHICHTE VON PETER DEM GROSSEN BIS NIKOLAUS I. Von W. O. Kljutschewskij (recte V. O. Kljucevskij). Zwei Bände in einem Band. Artemis-Verlag, Zürich. XVI 378, 432 Seiten.

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RUSSISCHE GESCHICHTE VON PETER DEM GROSSEN BIS NIKOLAUS I. Von W. O. Kljutschewskij (recte V. O. Kljucevskij). Zwei Bände in einem Band. Artemis-Verlag, Zürich. XVI 378, 432 Seiten.

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Wer sich in Deutschland ein Gesamtbild der russischen Geschichte machen will, verfügt über eine stattliche Anzahl von Werken in deutscher Sprache oder in anderen westeuropäischen Idiomen. Es gibt kurze Abrisse, darunter den weitaus besten von Irene Neander (Grundzüge der russischen Geschichte, Darmstadt 1956), umfängliche, deutsch abgefaßte Darstellungen, allen voran noch immer die von K, Stählin (Geschichte Rußlands, vier Bände, Berlin—Königsberg 1923—1939), dann, vom sozialistischen Standort aus gesehen, die des Neuschweizers V. Giter- mann (3 Bände, Zürich 1949), ferner deutsche Übertragungen der wichtigsten russischen Originaldarstellungen von Ka- ramzin, dem Vertreter der zwar westlich angehauchten, doch sehr konservativen, zarentreuen und individualistischen Geschichtsauffassung, von Platonov, einem bürgerlichen Demokraten, von Pokrovskij, dem Verfechter extrem kommunistischer Ansichten, die von Stalin als Linksabweichung verdammt wurden, die partei- orthodoxe von Bazilevic, BachruSin und Pankratova und endlich die hier zu besprechende des sehr zum Sozialismus neigenden Liberalen Kljucevskij. Ein Schüler und Gesinnungsgenosse des politisch nach der Mitte orientierten S. Solovjv, dem wir die umfängliche, allerdings vollständig nur auf Russisch vorliegende Geschichte seines Vaterlandes danken, hat er in seinem Werk dem sozialen Hintergrund des Geschichtsablaufs einen breiten Raum gewährt und eine Betrachtensweise gezeigt, die ihn an sich den späteren marxistischen Historikern sympathisch machen mußte. Doch er besaß’ als echter Forscher so viel Unbefangenheit und freien Blick, daß er zur Zeit des Höhepunkts der programmgemäß nur „parteiischen“ Geschichtsschreibung, als die Pokrovskij und Marx das Terrain beherrschten, in Ungnade fiel. Allerdings kam es zu einer Renaissance Kljucevskijs. Ab 1937 erschienen die vier bei seinen Lebzeiten veröffentlichten, bis 1762 reichenden Bände seines „Lehrgangs russischer Geschichte“, zusammen mit einem fünften, nachgelassenen, der bis zum Tod Nikolaus’ I. und zum Ende des Krimkrieges geht, in einer seither wiederholt aufgelegten Ausgabe. Er gilt als einer der „grands ancêtres“ der heutigen sowjetischen Geschichtswissenschaft, die — was nebenbei bemerkt sei —, ungeachtet ihrer Belastung mit ideologischen Verpflichtungen, auf beträchtlicher Höhe steht.

Es wäre an sich zu begrüßen, daß der Schweizer Verlag eine deutsche Ausgabe eines bedeutenden, stoffsatten, glänzend geschriebenen und bis heute nicht veralteten Werkes darbietet gäbe es nicht bereits eine vollständige in sechs Bänden, die 1924 bis 1926 und 1945 herausgekommen sind. Der Übersetzer, Waldemar Jollos, verteidigt sein Beginnen damit, daß man dem deutschsprachigen Leser die Lektüre des gesamten Werkes nicht zumuten dürfe. So empfangen wir nur ein paar Kapitel aus dem dritten und, mit nicht unwesentlichen Kürzungen, den vierten und den fünften Band des Originals. Dazu möchten wir bemerken, daß mehr als 800 Seiten des erhebliche Ansprüche an den Horizont des Lesers richtenden, vom Artemis-Verlag dargebotenen Buches für ein Durchschnittspublikum auch schon zu schwere Kost sind, daß dagegen der hochgebildete, zwar nicht Fachslawistik betreibende und des Russischen unkundige, doch an vertieftem Eindringen in die Materie interessierte Deutschsprachige lieber zur Übertragung eines vollständigen Originals greifen wird, als zu einer gekürzten Edition, die einzig durch wirtschaftliche Erwägungen, nämlich die Aussichten auf den Absatz des Buches, zu Techtfertigen wäre. Nun bezweifeln wir sehr, daß der Artemis-Verlag in dieser Hinsicht an seiner Kljucevskij-Ausgabe viel Finanzfreuden ernten werde.

Diese unsere Vorbehalte angemeldet, stellen wir gerne fest, daß die Übersetzung Jollos’ ausgezeichnet und angenehm lesbar ist; daß vor allem die Schilderung Kljucevskijs, sei es der Petrinischen Zeit, sei es der Epochen Elisabeths, Katharinas II., Pauls, Alexanders I. und Nikolaus I., in jeder Hinsicht fesselnd und daß sie im Kern wahr ist. Freilich heißt es hinnehmen, daß Kljucevskij, der das Anekdotische keineswegs verschmäht und es verschwenderisch umherstreut, um gesellschaftliche Zustände zu charakterisieren oder um Personen in das Licht zu tauchen, das ihn passend dünkt s.., daß er sehr wichtige Fragen, die dem authentischen Sprossen der Aufklärung nebensächlich sind, überhaupt nicht berührt. So erfahren wir zum Beispiel nichts Konkretes über die Herkunft Katharinas I., das psychologischen Schlüsselwert besitzende Problem der Vaterschaft bei Paul I. wird nicht einmal gestreift. Kein Wort erfahren wir über die geheimnisvollen Begleitumstände des Todes Alexanders I.; der De- kabristenaufstand und die ihn auslösende Angelegenheit der Thronfolge Nikolaus’ I. werden kurz abgetan Dafür entschädigen uns die eindrucksamen Gemälde des russischen Lebens, das Kaleidoskop der Sitten, Bräuche, Gesetze. Der Jollosschen Ausgabe können wir, abgesehen vom grundsätzlichen Einwand über das ihr wesenhafte Prinzip der verkürzten Auswahl, einen, leider nur zu oft vorzubringenden Tadel nicht ersparen; sie druckt die russischen Eigennamen in einer greulichen Transkription und sie entstellt andere bei der Rücktranskription aus dem Russischen aufs schlimmste. So sehen wir vor uns eine „Schljachta" (richtig; Szlachta), einen Brikner (Brückner), Leszcynski (recte Leszczynski), Feldmarschall Lessy (Lacy), dessen Ranggenossen Minnich (Münnich). Fürst Czartoryski tritt einmal als Czartorijski, ein anderes Mal als Tschartorijskij auf, ohne daß Jollos ahnt, daß es sich um denselben Familiennamen handelt. Und so fort. Man sollte eben eine schön ausgestattete und dankenswerte „Russische Reihe”, von der diese Ausgabe Kljucevskijs ein Teil ist, wenn schon nicht Fachkundigen, so mindestens Sachkundigen anvertrauen.

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