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Alte Legende — neu gedruckt

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L'AIGLON. Von Andrė Castelot, Verlag: Le livre contemporain, Paris. 480 Seiten

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L'AIGLON. Von Andrė Castelot, Verlag: Le livre contemporain, Paris. 480 Seiten

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Mit einer auf nicht viel überlegende Leser abgestimmten Kompilation stellt sich Andrė Castelot diesmal vor. Das verwendete Aktenmaterial ist dem für die Versteigerung der 8000 an Marie Louise gerichteten Briefe vom Münchner Haus Karl & Faber herausgegebenen Katalog und den Werken des Unterzeichneten entnommen, fachkundige Leser werden enttäuscht sein, da diese Papiere kaum etwas Neues von Belang bringen, der Autor mit dem Wiener Milieu viel zuwenig vertraut und über das Anekdotenhafte nicht hinausgelangt ist. Er hat sich begnügt, die Legende mit den angeführten Quellen entlehnten Dokumenten aufzuputzen, insofern sie ohne Gefahr für seine zumeist unhaltbaren Thesen sind. Zu alldem stellt er die irreführende Behauptung auf, ich hätte für meine Arbeiten über den Sohn Napoleons nur über einen Teil der grundlegenden Berichte des Grafen Dietrichstein, Gouverneur des Prinzen, verfügen können, während ihm die Originale „fast zur Gänze" vorlagen. In Wahrheit war ich als erster und bis jetzt einziger in der Lage gewesen, sämtliche mit den Originalen übereinstimmenden Entwürfe, überdies die Antwortschreiben Marie Louisens an Dietrichstein zu verwerten. Auf meinen schriftlichen Einspruch hin, antwortete mir Castelot, er habe „ein Lot der allerinteressantesten Briefe Dietrichsteins“ während der Ausstellung einer Auswahl von Dokumenten im Pariser Haus Charavay kopieren können. Anderseits habe ich vom Haus Karl & Faber folgendes Schreiben erhalten: „Andrė Castelot hat nicht die Dietrichstein- Briefe im Original, sondern lediglich unsere Auktionskataloge zur Verfügung gehabt. Lediglich einige Briefe, die bei Charavay ausgestellt waren, konnte Herr Castelot im Original einsehen. Die Firma Charavay war von uns nicht autorisiert, Abschriften anfertigen zu lassen.“

In der Vorrede erklärt Castelot, „es wäre unmöglich, sich nicht auf das bemerkenswerte Werk des Barons de Bourgoing zu berufen“. Was soll ich aber von diesen und weiteren Anerkennungen halten, da dieser Autor zahlreiche, ihn widerlegende Konstatierungen und Erläuterungen aus meinen Arbeiten einfach übergeht und mir auch wegen der Richtigstel lung frei erfundener Behauptungen vorwirft, ich sei „gänzlich vom ehrfurchtsvollen Wunsch beseelt, den Wiener Hof zu verteidigen“, aus der Feder Castelots ein recht unangebrachter Vorwurf. Die Gegenbeweise zu seiner These, der Prinz sei wenig liebevoll behandelt worden, mit einem irrationellen Studienplan (den Castelot nicht kennt) gequält worden, ignoriert er selbstverständlich. Weiter wurde die gänzlich verfehlte Methode der französischen Gouvernanten, die das Kind wie ein höheres Wesen bewunderten und ihm Mißtrauen gegen seine Erzieher eingeflößt haben, nur gestreift. Vor seinen Großeltern und den Gästen des Hofes verstand der Prinz sich von der besten Seite zu zeigen, während er Dietrichstein und die anderen Gouverneure durch Ungehorsam und Widerspruchsgeist geradezu quälte. All die guten Lehren und Ermahnungen der Gouverneure blieben um so mehr ohne Wirkung, als die Großeltern ihren heiteren und liebenswürdigen Enkel verwöhnten und Dietrichstein zum Beispiel verargten, wenn er wegen seines Betragens nicht mit den Großeltern speisen oder sie ins Theater begleiten durfte. Welches Gewicht kann man daher dem Urteil der Erzherzogin Leopoldine beimessen, die dem „abominable"(abscheulichen) Grafen Moritz grollte, der nicht umhin konnte, seinen Zögling zu strafen. „Zwei Sachen werden die Erziehung stets behindern“, schreibt Dietrichstein im achten Jahr seiner Tätigkeit nach Parma, „die Zerstreuungen und der Starrsinn des Prinzen, von dem man sich keinen Begriff machen kann, falls man nicht tagtäglich Zeuge davon ist. Das ist, was meine Stellung derart erschwert, denn trotz allem Widerwillen, mich strenge zu zeigen, sehe ich nur zu deutlich, daß es unmöglich ist, anders zu handeln.“ Der folgende Bericht zeigt neuerlich, wie der Prinz verwöhnt worden ist. „Ich war standhaft, trotz aller Mühe, die sich Ihre Majestät gegeben hat, um mich dazu zu bestimmen, den Prinzen zu den Jagden zu begleiten. Ich habe mir aber gedacht, man müsse endlich einmal die Sache ernstlich behandeln."

Wie stellt sich Castelot zu dem ihm bekannten Bericht (15. Jänner 1825) über Reichstadt der an allen Festlichkeiten anläßlich der Vermählung der Erzherzogin Sophie teilgenommen hatte: „Diese drei Monate andauernder Zerstreuungen haben ihm einen maßlosen Schaden zugefügt. Ich kann . ihn nicht anders strafen, als ihm Theaterbesuche, besonders Familiendiners, zu versagen, denn man macht sich keinen Begriff von den Listen und Mitteln, die er anwendet, um zum Ziel zu gelangen.“ Ueberaus gehässig ist Castelots Urteil über den seiner Zeit vorauseilenden, in der gesamten Gelehrtenwelt geschätzten Grafen Dietrichstein, von dessen Tätigkeit als Musikgraf und Oberstkämmerer auf allen Gebieten von Wissenschaft und Kunst er keine Ahnung hat. Völlig verfehlt ist es, ihn wegen seiner stets gleichlautenden Klagen als Pedanten hinzustellen und den Nervenproben nicht Rechnung zu tragen, die ihm sein Zögling und die Nachsicht des Kaiserpaares auferlegten. Wie hocherfreut berichtet er jederzeit, öfter als es Castelot ahnt, nach Parma über alles Lobenswerte im Benehmen des Prinzen, oder in den letzten Jahren, sobald es ihm gelungen war, seinen unreifen Zögling wegen der dem Autor scheinbar unbekannten Feindseligkeit des Auslandes gegen den Napoleoniden von unerfüllbaren Wünschen abzubringen. Castelot hat die unbewußt vom Prinzen schon als Kind gespielte Rolle nicht erfaßt. Er weiß nichts vom unverdienten Mißtrauen gegen Kaiser Franz, dem die Pariser Botschafterkonferenz verargte, daß er die pfalz-bayerischen Güter seinem Enkel übertragen und ihm den ersten Rang nach den Erzherzogen eingeräumt hatte. Er weiß nicht, daß das Berliner Kabinett ihm nahegelegt, ein Eheverbot für seinen Enkel zu erlassen, daß der Botschafter Seiner Allerchristlichsten Majestät, Caraman, dem Kanzler Metternich vorgeworfen hat, sein Gebieter zeichne den „Sohn des Usurpators“ zu sehr aus.

Castelot hat sich als ein voreingenommener Rich ter erwiesen, hat sich von der haltlosen Legende nicht zu emanzipieren vermocht, Moritz Dietrichstein leichtfertig diffamiert, Marie Louise des „feigen Verrats“ an ihrem Gatten beschuldigt, eine längst als grundlos erwiesene Geschichtsfälschung. An „Neuem“ hat er lediglich Varianten der Legende gebracht. Um den Sohn ihres Idols die Sympathien der Franzosen zu sichern, stellten ihn die Bonapartisten als das bemitleidenswerte Opfer der reaktionären Heiligen Allianz hin. Bereits 1812 in Dresden hat Napoleon sich seinem Schwiegervater gegenüber dem Gedanken nicht ablehnend gezeigt, daß „ . .. indem er (Napoleon) selbst glaube, daß nach seinem Tode alles auseinandergehen würde, er (Kaiser Franz) allein den Enkel schützen könne“. Kaiser Franz hat sich denn auch an die seiner Tochter wiederholt gegebenen Zusicherungen. für ihren Sohn in jeder Form zu sorgen, auch ungeachtet des Einspruchs seiner Alliierten, getreulich gehalten und ihm eine des Enkels des Kaisers von Oesterreich würdige und materiell sorgenfreie Existenz gesichert. Daß durch ihn und seine Beauftragten. in erster Linie Moritz Dietrichstein, nicht alles Ersprießliche versucht worden ist, kann unr von oberflächlichen Autoren in Frage gestellt werden, die sich über den allgemein verpflichtenden Grundsatz „Audiatur et altera pars“ hinwegsetzen. Jedenfalls war es im Zusammenbruch des napoleonischen Riesenreichs eine rettende Fügung des Schicksals, daß der nunmehrige Prinz' von Parma der Obhut seines Großvaters anvertraut wurde und nicht der seiner von Napoleon äußerst geringeschätzten Onkel, die ihren Neffen ohne Zweifel schon frühzeitig in politische Abenteuer verwickelt hätten.

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