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Erinnerungen eines bayrischen Edelmannes

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In der Unzahl von Memoirenwerken, die heute auf dem Büchermarkt zu finden sind, nehmen die Erinnerungen des Freiherrn von Aretin einen besonderen Platz ein. Sie umfassen eine relativ kurze Spanne Zeit, in ihrem wesentlichsten Teil sogar nur die wenigen Monate, die nach dem Sturz Brünings und der Ernennung des Steigbügelhalters Hitlers, des Herrn von Papen, zum Reichskanzler den deutschen Patrioten noch für ihre letzten, verzweifelten Versuche übrigblieben, Deutschland vor der Schmach und dem Unheil einer nationalsozialistischen Machtergreifung zu bewahren; sie sind, was von so vielen Memoiren leider nicht gesagt werden kann, durchaus ehrlich und frei von jeder späteren Korrektui an den dargelegten Auffassungen oder Schlußfolgerungen, die sich nachträglich als unrichtig erwiesen haben; und sie sind verfaßt von einem Mann, der durch hohe Bildung und gründliche Kenntnisse auf verschiedenen Gebieten der Wissenschaft, darunter jenen der Astronomie und der Geschichte, durch langjährige politische und schriftstellerische Tätigkeit und schließlich durch die überaus reichlichen und exakten Informationen, die ihm als dem innenpolitischen Hauptschriftleiter der „Münchener Neuesten Nachrichten“ zur Verfügung standen, in hervorragendem Maße qualifiziert war, ein getreues und plastisches Bild jener tragischen Vorgänge, namentlich soweit sie unmittelbar Bayern betrafen, zu entwerfen. Seine Aufzeichnungen bringen manche Einzelheiten historischer Tatsachen, die der breiteren Oeffentlichkeit auch heute noch leider nicht genügend bekannt sind. So erinnern sie, mit höchst wünschenswertem Nachdruck, an die im April 19 3 2 erfolgte Aufdeckung der hoch- und landesverräterischen Vorbereitungen, die Hitler und seine Gefolgschaft getroffen hatten, um im Falle eines polnischen Angriffs auf die so gut wie ungeschützte deutsche Ostgrenze mit den Waffen, die von der Reichswehr zwecks Ausrüstung verschiedener Freiwilligenverbände einschließlich SA und SS als eventuell notwendig werdende Verstärkung des Grenzschutzes bereitgestellt worden waren, nicht etwa gegen die Polen, sondern gemeinsam mit diesen gegen Berlin zu marschieren; so rücken sie auch die beiden Hindenburg, Vater und Sohn, und die dunklen Machenschaften der korrupten „Osthilfe“-Nutznießer in das gebührende Licht; so regen sie zum Studium der gerade jetzt wieder recht aktuellen Fragen an, ob der Begriff deutscher Offiziersehre durch die Leichtigkeit charakterisiert wird, mit der die deutschen Generäle im Herbst 1918 ihre unwandelbare Treue vom Kaiser auf die Republik übertrugen, oder durch den Eifer, mit dem sie, ohne einen Befehl abzuwarten, im August 1934 einen neuen Eid schwuren — auf die Fahne des „böhmischen Gefreiten“.

Auch dort, wo Aretin im Irrtum war, wie zum Beispiel in seiner Meinung über das wilhelminische Deutschland, welches er noch immer als „Reich“ betrachtete und nicht als das, was es wirklich gewesen ist, ein auf dem Wege völliger Zentralisierung befindlicher Nationalstaat, sind seine Ausführungen gedankenreich und interessant. Sie geben Anlaß zu grundsätzlichen, ins Weltanschauliche hinübergreifenden Erwägungen, deren Bedeutung, auch für Gegenwart • und Zukunft, in dem glänzend geschriebenen Nachwort des Historikers Karl Buchheim klar zum Ausdruck kommt. Einen weiteren wertvollen Beitrag zu diesem Buch lieferte der Sohn des schon 1952 verstorbenen Autors, Karl Otmar von Aretin, mit einem tief empfundenen Vorwort. So ist ein Werk entstanden, welches zu den wichtigsten und zugleich spannendsten Dokumenten der Zeitgeschichte gezählt werden darf.

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