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Wilhelm IL — eine Schattenfigur?

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REGIERTE DER KAISER? Aus den Kriegstagebüchern des Chefs des Marinekabinetts im ersten Weltkrieg, Admiral Georg Alexander v. Müller, 1914 bis 1918. Mit einem Vorwort von Dr. Sven v. Müller. Herausgegeben von Walter Görlitz. Musterschmidt-Verlag, Göttingen, 1959. 455 Seiten, 14. Abbildungen. Preis 24.60 DM

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REGIERTE DER KAISER? Aus den Kriegstagebüchern des Chefs des Marinekabinetts im ersten Weltkrieg, Admiral Georg Alexander v. Müller, 1914 bis 1918. Mit einem Vorwort von Dr. Sven v. Müller. Herausgegeben von Walter Görlitz. Musterschmidt-Verlag, Göttingen, 1959. 455 Seiten, 14. Abbildungen. Preis 24.60 DM

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Auch nach der deutschen Katastrophe von 1945 haben zahlreiche Journalisten, vor allem in sogenannten illustrierten Tatsachenberichten versucht, die Gestalt Wilhelms II. und seine Familie zu glorifizieren. Wer erinnert sich nicht an die endlosen Reportagen „Der Kaiser", „Des Kaisers Tochter“, „Der Kronprinz“ usw., und hat nicht zuletzt Karl Jaspers in seiner Rede anläßlich des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 195 8 eindringlich darauf hingewiesen, daß sich das preußische Kleindeutschland fälschlich mit dem Titel „Reich“ versehen habe und man nicht Gespenster das Blut der Gegenwart trinken lassen solle? Unter diesem Aspekt muß auch die Bewertung der Gestalt Wilhelms II. gesehen werden, obgleich auch in der Zwischenkriegszeit mancher Versuch der Rechtfertigung im In- und Ausland unternommen wurde und man gerne den Herrscher, der einstmals dem deutschen Volk Glück und Reichtum verhieß, als einen Romantiker, den seine Zeit und Umwelt nicht verstand, zu rechtfertigen versucht.

Inzwischen haben allerdings zahlreiche ernsthafte historische Veröffentlichungen das Bild des letzten Hohenzollernkaisers aller von ihm so geliebten Glorie entkleidet. Schon die Kontroverse Hindenburg- Ludendorff warf manchen Schatten auf den Herr-

scher, der sich so gerne als Verkörperung der preußisch-deutschen Macht durch willfährige Schreiber darstellen ließ. Die Aufzeichnungen des preußischen Generals Thaer, die Erinnerungen Groeners, ja selbst die sorgfältig berichtigten Memorien Seeckts ließen das Bild Wilhelms II. immer mehr in ungünstigem Licht erscheinen. Es ist deshalb ein hohes Verdienst, daß die Erinnerungen eines dem einstmaligen Kaiser durchaus ergebenen Mitarbeiters, des Admirals Georg Alexander von Müller,

der seit 1908 die Stellung des Chefs des Marinekabinetts bis zu Ende des Krieges 1918 inne hatte, herausgegeben von Walter Görlitz, nunmehr erscheinen konnten und einen wertvollen Beitrag zur Geschichte des ersten Weltkrieges bilden. Der Verfasser dachte als deutscher Offizier, der allerdings enge Beziehungen zur Wirtschaft und zur Finanzwelt besaß und frühzeitig den Ernst der Lage erkannte. Im kaiserlichen Hauptquartier tätig, mußte er notwendigerweise politisch denken und geriet naturgemäß in Gegensatz zu den Pseudo-Politikern der Obersten Heeresleitung und seiner eigenen Stammwaffe, der Kriegsmarine, nicht zuletzt zu Tirpitz, dessen uferlose Annexionspläne und — nach dem selbst verursachten Sturz — hintergründige Winkelzüge, dem Chef des Marinekabinetts manche bittere Stunde bereiteten. Als Beobachter — und als solcher tritt er in seinem Tagebuch auf — war Admiral Müller sehr kritisch. In seiner Kritik liegt der Wert der vorliegenden Aufzeichnungen. Zusammengefaßt bestätigt er manche schon bekannte Tatsachen. Kaiser Wilhelm II. ließ sich zunehmend im Verlaufe des Krieges zur Seite schieben, einerseits durch die Heeresleitung, vor allem durch Hindenburg und Ludendorff, anderseits durch das eigene Unvermögen, die Leitung des politisch-militärischen Geschehens selbst in die Hand zu nehmen. Aeußerlichkeiten, Teilnahme an sogenannten Gefechten. Ordensverleihungen, Tiefpunkte bei geringfügigen Rückschlägen und maßlose Exzesse anläßlich kaum mehr erfolgreicher Gegenoffensiven kennzeichnen das Wesen Wilhelms II., der sich zum Beispiel am 26. März 1918 nach einer Frontfahrt dahingehend äußerte, daß ein englischer Parlamentär um den Frieden zu erbitten, dabei vor der Kaiserstandarte knien müsse (S. 366). Wir erfahren aus den Reflexionen Müllers manche Aeußerungen aus der unmittelbarsten Umgebung des Kaisers, wie etwa die Festlegung der Kriegsziele am 23. April 1917 (S. 278): Litauen, Kurland, selbständiges Polen, im Westen „ein ganz unter deutscher Kontrolle stehendes Belgien" usw.

Oesterreich-Ungarn und sein Kampf gegen den Osten an der Seite des Verbündeten ebenso wie gegen Italien werden sehr gering eingeschätzt. Wenn etwa angesichts der Erpressung Italiens gegenüber Oesterreich ein Mitglied des Hauptquartiers sich die Grtäde erbittet.'cdÄ österrefehisch garischeiT Minister Stefan Graf Burian anr Schluß des Krieges- wegen seiner Unnachgiebigkeit ohrfeigen zu dürfen (S. 100), so zeigt dies die Einstellung, die maßlose Ueberheb- lichkeit gewisser deutscher Stellen Daß im September 1915 im kaiserlichen Hauptquartier der Ueber- gang von 38.000 Elsässern zu den Franzosen erörtert wurde, wirft nicht gerade ein günstiges Bild auf die ständigen Vorwürfe in Richtung der österreichisch-ungarischen Truppen. Gegenüber einer Fußnote des Herausgebers (S. 316) bezüglich der elften Isonzoschlacht, wonach zur Entlastung der Oesterreicher sieben deutsche Divisionen in dieser Schlacht eingesetzt worden wären, muß nachdrücklich auf den Band VI des österreichischen Generalstabswerkes verwiesen werden, der beweist, daß für diese Schlacht keine deutsche Truppenunterstützung erfolgte! Auch bei der nachfolgenden 12. Isonzoschlacht haben sowohl die österreichisch-ungarischen als auch die deutschen verbündeten Truppen gemeinsam den Sieg erfochten. Vielleicht wäre bei einem besseren Verständnis für die österreichisch-ungarischen Belange im ersten Weltkrieg nach den Ergebnissen der 12. Isonzoschlacht noch auf dem oberitalienischen Kriegsschauplatz folgend den Ideen Conrads für die Mittelmächte ein Frieden des Ausgleiches am Horizont erschienen.

Ludendorff und Hindenburg suchten aber die Entscheidung im Osten in maßlosen Gebietserwerbungen und im Westen durch eine ergebnislose Offensive; zum Ende des Krieges sei hier Müller das Wort erteilt: 28. September 1918 (S. 421 ff.).

„Um 6 Uhr waren wir beim Kaiser, und Scheer holte sich die Ermächtigung zu Räumungsvorbereitungen, speziell der Werft in Brügge. Se. Majestät war mit allem einverstanden. Er erzählte uns dann selbst, wie heute vormittag Hindenburg und Ludendorff mit ihrem Geständnis gekommen. Es wäre ihm lieber gewesen, es wäre früher geschehen. Tatsächlich sei die Armee am Ende ihrer Kräfte. Namentlich bayrische, aber auch sächsische Divisionen hätten doch gleich nachgegeben. Hintze habe Auftrag, um Waffenstillstand und Frieden nachzusuchen. Der U-Boot-Krieg werde als Druckmittel vorläufig noch aufrecht erhalten, bis ein Waffenstillstand und annehmbare Friedensbedingungen einigermaßen gesichert. Der Krieg sei zu Ende, freilich ganz anders, als wir uns das gedacht.

Ich sagte: ,Wie der Krieg auch endet, unser Volk hat sich in ihm glänzend bewährt.'

Der Kaiser: Ja, aber unsere Politiker haben erbärmlich versagt.'

Aber wer waren denn unsere Politiker im Kriege? Hindenburg und Ludendorff mit der Politischen Abteilung des Großen Generalstabs. Fehler auf Fehler sind da gemacht worden, vor allem der sich jetzt rächende Eroberungsfrieden gegen Rußland, dessen innerer Zerfall, ein Gottesgeschenk von unermeßlicher Größe, hätte ausgenützt werden müssen für das schleunige Freimachen großer Truppenmassen für den Westen. Statt dessen die Eroberung von Lettland und Estland und die Einmischung in Finnland, Produkte der Maßlosigkeit und des Größenwahns. Nur selten gelang es der eigentlichen politischen Leitung, von der Obersten Heeresleitung geforderte Gewaltakte zu verhindern: Ultimatum an Holland wegen der englischen Flieger, Brüskierung von Spanien, uneingeschränkter U-Boot-Krieg gegen Amerika …“

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