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Geheime Sünden

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Allmächtiger, ewiger Gott, Du gibst im Übermaße Deiner Huld den Flehenden mehr, als sie verdienen, und mehr, als sie erbitten; so gieße denn über uns Dein Erbarmen aus, vergib, was das Gewissen belastet, und gewähre, worum wir nicht zu bitten wagen.

(Kirchengebet vom 11. Sonntag nach Pfingsten)

Wenn die Texte der Liturgie — es geschieht dies sogar bei der Meßfeier — von den „geheimen Sünden" sprechen, so tun sie dies im allgemeinen in der Unterscheidung von den „öffentlichen Sünden", die ja in der altchristlichen und weithin auch noch in der mittelalterlichen Gemeinschaft cis soziale Vergehen im eigentlichen Sinne einer besonderen Bußpraxis unterlagen. Inzwischen sind unsere Unterscheidungen etwas differenzierter geworden. Wir wissen — besonders seit der großen Enzyklika Pius’ XII. vom „Mystischen Leib Christi’ ist das ja auch in der Lehre von der Kirche ausge- drückf —, daß es keine nur geheimen und privaten Sünden geben kann, nicht nur, weil es vor Gott kein Verbergen auch der geheimsten bewußten Gedankenregung gibt, sondern weil jede Tat des einzelnen das Gesamtbild der Kirche vom Wesen her im guten oder schlechten Sinn beeinflußt, in ihrer Repräsentation nicht nur vor Gott, sondern auch vor der Welt, deren Gespür für die Strahlung der Kirche oft weit entwickelter und sicherer ist als alles theoretische oder methodische Wissen. Aber wir wissen anderseits auch besser als Generationen vor uns, daß es im Menchen selbst einen geheimen Bereich des Innern gibt, in dem die Grenzen von Sünde und Krankheit, Veranlagung und Schuld ineinanderfließen. Es ist dem Arzt überantwortet, dort zu scheiden und zu klären, wo es überhaupt möglich ist. Kein Arzt aber ist imstande, uns von dem zu befreien, weis das Gebet dieses Sonntags, da das Evangelium vom geheimnisvollen Herrenwort des „Offne dich” an den Taubstummen berichtet, die „Belastung des Gewissens” nennt. Wir sprechen hier gar nicht von dem, was einer bewußt verbergen will, als eine geheime Schuld mit sich herumschleppt, deren Entdeckung er täglich befürchten mut}. Wir sprechen von dem, was jeder von uns im Herzen spürt und wovon gerade die meisten Heiligen am stärksten gebannt waren: Von dem über das Gefühlsmäßige hinausgehenden Wissen, daß es irgendwo mit uns nicht stimmt, daß wir — wenn schon nicht gegen die Gebote sündigend — uns in einem Punkt dem Auftrag des Herrn, den wir deutlich vernehmen, verschlossen haben und weiterhin verschließen. Es gibt viele Christen — und es sind nicht die schlechtesten —, die nun im Bohren nicht nachlassen, die geradezu darauf fixiert sind, ihre verborgensten Schwächen zu ergründen, mit dem uneingestandenen Ziel, eben diese Gewissenslast loszuwerden, „Reine” zu sein, wie es die Pharisäer und Puritaner wollen, Menschen, die ein solches Gebet, wie es die Kirche an diesem Sonntag für alle ihre Kinder, für Päpste, Theologen und öffentliche Sünder gemeinsam und unterschiedslos vorschreibt, gar nicht sprechen müßten Aber gerade daß die Kirche wünscht und voraussetzt, daß dieses Gebet gesprochen wird, besagt deutlich genug, wie richtig und sinnvoll diese Formulierung in der Liturgie steht. Niemand kann von dieser inneren Last dispensiert werden — auch wenn sich die eine oder andere Richtung der psy- chologie bemüht, sie weazudiskutieren. Aber niemand kann sich auch durch einen moralischen Kraftakt selbst von ihr befreien. Es aibt keine Messe ohne das Confiteor. Wer glaubt, es nicht zu brauchen, kann an ihr nicht feilnehmen.

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