6781140-1969_44_12.jpg
Digital In Arbeit

Mißtrauen gegen Lyrik

Werbung
Werbung
Werbung

„OFFENE GEDICHTE." Von Ta- deusz Rözewicz, übersetzt von Karl Dedecius, Carl Hansen Verlag. München 1969. DM 16.80.

Die „Offenen Gedichte“ von Tadeusz Rözewicz, die der Hanser-Verlag in einer gut lesbaren und gut sprechbaren Übersetzung von Karl Dedecius vorlegt, stammen aus den Jahren 1945 bis 1969. Sie sind nach Zeitepochen in zehn Abschnitte geteilt, die zumeist zwei Jahre umfassen. Nur der, dritte Abschnitt (1949— 1954) ist mehr als doppelt so lang. Jeder Abteilung sind zehn Gedichte zugeordnet. Wir müssen annehmen, daß die Epoche 1949—1954 lyrisch wenig ergiebig war. Der 1921 geborene, durch Krieg, Besatzung und eine Berufstätigkeit als, Magistratsbote der Stadtverwaltung von Radomsko in seiner Entwicklung behinderte junge Mann beendete damals sein Studium der Kunstgeschichte, siedelte sich in Gleiwitz an. trat „in den Lebenskampf ein“ und versuchte sich mit dem Schreiben von Reportagen („Blätter aus Ungarn“) durchzubringen. Seine Gedichte betrachtete Rözewicz „mit großem Mißtrauen“. „Ich habe sie aus dem Rest- der übriggebliebenen, geretteten Wort gefügt, aus uninteressanten Worten, aus Worten vom großen Müllhaufen, vom großen ixiedhof“.

zukunftsweisender Bedeutung. Zu ihnen rechnen Wir vor allem „Provinzelegie“, einen wichtigen autobiographischen Rechenschaftsbericht („meine frau ist wie die linke hand oder die decke oder der stern die er- innerung an den freund ist farblos wie die erinnerung an den stock der im warteraum verloren ging ") Das Detachement von den Erscheinungen der Welt, die bisher stark emotional befrachtet wurden, stellt gleichsam den Wendepunkt dar von der „physiologischen Unruhe“ der frühen Gedichte zur „poetologischen Unruhe des nach neuen Gesetzen suchenden Dichters." (K, Dedecius). Nicht zufällig hieß der erste Band „Unruhe“ (erschienen 1947) — enthielt Gedichte mit Titeln wie „Polnische Termopyle“, „Mutter der Gehenkten“, „Liebe 1944“ — während 1958 ein Band mit dem Titel „Formen" erschien.

„Ich kann nicht begreifen, daß eine Poesie fortbesteht, obwohl der Mensch, der diese Poesie ins Leben rief, tot ist,“ — lautet ein Bekenntnis aus 1960. Der Dichter wird für Rözewicz zur „Stimme des Anony- mos“. zum „bild und ebenbild des nichts“, die Lyrik wird ihm zum „Kampf um den Athem“. In der Nacht „wuchert das Wort .nichts’ gewaltig“, vor dem „Sohn“ muß man „das Gesicht verstecken“.

Trotz dieses, Mi ßtrauens entstanden Der Pessimismus in der Beziehung in den „unfruchtbaren Jahren“ zwi- zur eigenen Arbeit wächst zusehends sehen 1949 und 1954 Gedichte von in der ersten Hälfte der sechziger

Jahre. „Meine Lyrik“ ist eine Beschreibung der eigenen poetischen Tätigkeit mit durchweg negativen Aussagen, („übersetzt nichts erklärt nichts sagt nichts aus umfaßt keine Ganzheit erfüllt keine Hoffnung schafft keine neuen Spielregeln nimmt an keiner Unterhaltung teil ersetzt keine andere kann von keiner anderen ersetzt werden ist offen für alle ohne geheimnis sie hat viele Aufgaben die sie nie erfüllt“)

An Texten wie diesem gewinnt die Charakteristik eines polnischen Kritikers, der die Gedichte von Rözewicz „Geflüster, welches Schrei wurde“ nennt, exemplarische Bedeutung.

Sinn und Lebensfähigkeit der menschlichen Interkommunikation wird in den Gedichten der allerjüngsten Epoche (1968 69) immer stärker und mit unerbittlicher Konsequenz in Frage gestellt. Das „Verbot, schöne Gedichte zu schreiben“, das der Dichter nach eigenem Bekenntnis „in sich trägt“, schließt den Zweifel an der Ausdrucksmöglichkeit schlechthin ein. „Warum drük- ken wir etwas aus“, wird in „Phon“ (1968) gefragt.

Rözewicz rebelliert dagegen, daß die Lyrik das „Ende der Welt überlebt hat, als wäre nichts geschehen, unerschüttert in ihren Gesetzen, Gebrauchsanweisungen, Praktiken.“ Trotz dieser Skepsis gegenüber der Ausdrückbarkeit von Bewußtseinsinhalten ist Rözewicz glücklicherweise nicht in Verlegenheit um Themen, die er ausdrücken will, und um Metaphern, die ihm für diesen Ausdruck zur Verfügung stehen. Er ist ein scharfer Beobachter, der auch das Gemeine und Schmutzige der Regi strierung für wert hält. Er nimmt die „Figuren an den Wänden der städtischen Toiletten, der Bahnhöfe, Schulen“ ebenso zur Kenntnis wie den „Striptease ä la Paris“ im „drittklas- sigen Vergnügungslokal“. Es geht ihm in den erbarmungslosen Gedichten der letzten Epoche („Venus de Laussel“, „Mons pubis“, „Ovum“), die vor keinem Greuel menschlichen Elends und vor keinem Jammer der Kreatur zurückschrecken und in de nen Angst und Ausgestoßenheit des homo non sapiens in einer Welt, für die „Gott und der Teufel und noch später der Mensch“ gestorben sind, mit hartem Griffel gezeichnet werden, immer um die Wahrheit, um die „Wahrheit der Wörter“ und um die Wahrheit der Situationen. Diese Wahrheitserforschung und Wahrheitssuche setzt den „Abbau dekorativer Fassaden“ voraus,

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung