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Quer durch die Zeit und die Politik

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Der diese Besprechung schreibt, ist im Jahre 1940, mitten auf der Straße, von dem Phänomen Becher in die Seele getroffen worden. Das Buch „Wiedergeburt“, in Moskau 1940 gedruckt, das er damals in der eben eroberten Stadt Artemowsk vor einer Buchhandlung aus dem Kot aufhob, steht dreckverkrustet und zerfetzt seitdem an einem Ehrenplatz seines Bücherbords. (Das Standbild des Arbeiterhelden, nach dem die Stadt benannt ist, war übrigens die einzige kubistische Skulptur, die der Besprecher je frei auf einem Platz aufgestellt sah.) Es ist vielleicht heute peinlich, gestehen zu müssen, daß die Begegnung mit dem Dichter damals für ihn einen Schock bedeutete. Denn erst durch sie begriff er ganz plötzlich, daß auch die andere, feindliche Seite eine geistige war und eine menschliche...

Woraus aber spürte sich dieses Menschliche? Warum glaubte er, „Mensch“ zu lesen, wo Becher „Genosse“ schrieb? Einfach, weil Mensch gemeint war! Es ist gewiß nicht gleichgültig, daß Becher schon früh zum Kommunismus sich bekannt hat und verlangte, daß der Dichter vor allem Volksredner sei und seine Dichtung Manifest. Aber, hat er denn auch wirklich das Volk aufgerissen mit seinen gehackten Sätzen? Hat er nicht mit seiner „neuen Syntax“ vielmehr die Kommunisten gegen sich aufgebracht? Die Kunst geht quer durch die Zeit und durch die Politik. Das künstlerische Gewissen ist von den Themen unabhängig und nur verantwortlich für die künstlerische Wahrheit. Der Intellekt spielt auf und der Wille muß tanzen, sagte Schopenhauer. Uns kann nur dieser Tanz interessieren, nicht seine intellektuelle Ursache; sonst machen wir uns etwas vor über den Sinn der Kunst, deren Aufgabe, nach Feuchtersieben , allein in ihren Mitteln beschlossen liegt. Gewöhnen wir uns jede chauvinistische Kunstbetrachtung ab. Seien wir nicht kritisch gegen Becher und nachsichtig gegen einen anderen Dichter, dessen herrliche „Rede über Österreich“ wir mit Recht unseren Kindern in die Hände legen, als ein Dokument unserer Kulturhöhe, obgleich er einst — in nicht minder schönen Versen verkündet — über unsere Feinde hinzustampfen gedachte, „wie übei lästiges Insekt“.

Es ist keine leichte Lektüre. Hiei ist alles geformt. Man glaubt e< einem Freund, daß er ihn wochenlang immer wieder dasselbe Gedieh schreiben sah, bis er endlich zufrieden war. Aber diese Gedichte sind dennoch wie ungeglättett Skulpturen mit den Fingerabdrük-ken des Künstlers. Diese Gedichtt können warten, weil sie wie Musit nicht verstanden werden müssen um zu erschüttern. Sie können warten, bis uns das Leben überzeug' hat. Sie sind nicht immer sympathisch. Denn sie schonen uns nicht

Und die Prosa? Man möchte e; dem Krieg zuschreiben, diesem ureigensten Thema des Expressionismus, den er auslösen half, wenr uns in seiner Darstellung die Überlebenschancen am größten scheinen Aber „Abschied“ ist genauso “wähl und so wirksam, immer 'noch, um ebenso „Das poetische Prinzip“, mi: dessen Inhalt man nicht übereinzustimmen braucht, um es dennoer poetisch wahr zu finden. Ein Geheimnis. Das des Dichters Johanne; R. Becher.

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