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Wodka und Absinth (IV)

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„Man hat mich als Menschen selten verstanden“, antwortet der berühmte russische Ballettmeister, Tänzer und Choreograph Serge Lifar auf die Frage, was er zu den Vorwürfen aus der französischen Öffentlichkeit zu sagen habe. „Maßlosigkeit und eine an Narzißmus grenzende Eitelkeit“ waren die gröbsten Vorwürfe, die seine Kritiker gegen den Emigranten vorbrachten. Lifar offenbarte sich freimütig im Gespräch: „Mein Leben Ist Einsamkeit.“

In der Schublade seines Schreibtisches liegt ein seidengefüttertes Futteral, das ein Paar völlig vergilbter Kinderballettschuhe enthält. Mit zärtlicher Gebärde führt er sie wie ein Kleinod dem Besucher vor, um sie dann wieder behutsam einzuschließen: Es sind die ersten Accessoires seines Werdegangs als Tänzer.

Seine Eltern hatten sie in den Revolutionsjahren mit anderen Erinnerungsstücken in Kiew vergraben, ehe sie den blutigen Wirren jener Zeit zum Opfer fielen. Verwandte, die von diesem Versteck wußten, haben sie ihm später aufbewahrt.

Als er 1962 zum erstenmal nach über 40 Jahren seine Heimat besuchte, wurden ihm seine ersten Ballettschuhe ausgehändigt.

Das Wiedersehen mit Rußland, das er als Kind verlassen hatte, hinterließ einen starken Eindruck bei Serge Lifar. Seine internationale Berühmtheit sicherte ihm auf allen Etappen seiner Reise einen freundlichen Empfang.

Man rechnete ihm hoch an, daß er dem Puschkin-Museum in Kiew und dem Djaghilew-Museum in Leningrad Manuskripte und persönliche Andenken, die an sein Leiben erinnern oder mit dem Ballett der Emigration zusammenhängen, zur Verfügung stellte.

Erinnerungen

Seine Vorträge in verschiedenen Städten der Sowjetunion fanden lebhaften Zuspruch. Mit Vergnügen erzählt er eine kleine Episode, die er in Leningrad nach einem Vortrag über die Entwicklung des modernen Bühnentanzes erlebte: Bei der Aussprache erhob sich ein Student und fragte herausfordernd: „Hat man Ihnen denn überhaupt verziehen?“ Serge Lifar sah dem jungen Mann einige Sekunden fest in die Augen, ehe er die Antwort gab: „Ich habe verziehen!“

Fast allen bewußten Russen in der Emigration ist es ein Herzensbedürfnis, die Erinnerung an ihre großen Vertreter im Gastlande wachzuhalten, damit das Exil als das wahre geistige Rußland weiterlebe.

Fraglos dürfte der Beitrag, den Serge Lifar in dieser Richtung geleistet hat, zu den bedeutendsten zählen, selbst für den Fall, daß der Verdacht seiner Gegner und Kritiker, er habe aus eigensüchtigen Motiven gehandelt, begründet wäre.

Als Fedor Schaljapin 1938 in Paris starb, wirkte Serge Lifar maßgebend mit, diese Beerdigung zu einem Ereigniis zu machen, das manche Staatsbegräbnisse gekrönter Häupter in den Schatten stellte. Als Sich 1950 beim Tode des „Tanzwunders“ Nijinsky in London nur fünf T^virltrae'pnd.p an spiiinem fJnahp einfanden, war Lifar über diese Gleichgültigkeit derart erschüttert, daß er drei Jahre später die Uberführung der sterblichen Überreste nach Paris durchsetzte, wo sie seit 1953 auf dem Montmartre-Friedhof, in der Nähe der Grabstätte Vestris', ruhen.

In jüngster Zeit muß der Intervention LifariS gedankt werden, daß eine Straße in der Nähe der Großen Oper seit dem 15. Februar 1965 den Namen Djaghilews trägt. Seitdem der Meister nicht mehr tanzt und die Tore der Oper seinen choreographischen Schöpfungen verschlossen sind, hat er das Schwergewicht seiner Aktivität auf literarische Arbeiten gelegt.

Neben dem autobiographischen Werk und Monographien verfaßt er Abhandlungen über die Technik und die Geschichte des Tanzes. Außerdem trägt er sich im stillen mit dem Projekt einer Anthologie russischen Schaffens im Exil auf allen Gebieten des Geistes und der Kunst.

Tolstojs Enkel

Den Plan einer umfassenden Würdigung seiner bedeutenden Landsleute teilt Lifar mit dem Enkel des Grafen Leo Tolstoj, Dr. Sergej Tol-stoj, der an der Place de Iena eine gutgehende Arztpraxis unterhält. Er ist 1912 in Moskau geboren, hat in Paris promoviert und besitzt die französische Staatsangehörigkeit. Obwohl seine Frau Französin ist, sprechen sie und ihre beiden Jungen von acht und zehn Jahrer. fließend Russisch.

Graf Sergej Tolstoj ist ein ruhiger, sensibler Mensch, dessen Privatleben von russischen Kunst- und Literaturforschungen bestimmt . ist. Als Arzt gehört er zu jenen im alten Rußland selbstverständlich gewesenen Idealisten, die keine „Mindest-tardfe“ kannten und mittellosen Patienten jederzeit kostenlos Hilfe gewährten.

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