Im August 1914 entfesselte das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg und leitete damit den Untergang des alten Europa ein.
Eines Tages wird der große europäische Krieg wegen irgendeiner Dummheit auf dem Balkan ausbrechen", soll Bismarck kurz vor seinem Tod gesagt haben. 37 Tage nachdem der österreichische Thronfolger und seine Frau in Sarajewo ermordet worden waren, brach der Erste Weltkrieg aus. Die Prophezeiung schien wahr geworden.
Startschuss zum Untergang
Obwohl allgemein behauptet wird, dass der serbische Student Gavrilo Princip den Startschuss für den Weltenbrand abgab, gibt es allerdings auch Einverständnis darüber, dass dieses Attentat nicht die Ursache, sondern lediglich der Auslöser war. Das Missverhältnis zwischen dem Mordanschlag auf ein - den meisten Menschen unbekanntes - Thronfolgerpaar und der europäischen Urkatastrophe reizte den amerikanischen Historiker David Fromkin.
In seinem im Münchner Blessing Verlag erschienenem Buch "Europas letzter Sommer" untersucht er - so der Untertitel - "die scheinbar friedlichen Wochen vor dem Ersten Weltkrieg".
Für den europäischen Bürger war 1914 ein Krieg schwer vorstellbar geworden, man genoss den Frieden und einen in der Geschichte nie zuvor erlebten Wohlstand. Fast ein halbes Jahrhundert hatten die Großmächte keinen Krieg gegeneinander geführt. Vor allem in Großbritannien war die Mittel- und Oberschicht überzeugt davon, dass die wirtschaftlichen Verflechtungen der - auch damals schon - globalisierten Welt militärische Auseinandersetzungen verhindern würden.
Von allen Ländern Europas hatte sich das deutsche Kaiserreich durch rasante Industrialisierung zur führenden Wirtschaftsmacht des Kontinents entwickelt. Dabei zeigte sich laut Fromkin Widersprüchliches: "Motor des deutschen Industriewachstums war das Bildungssystem des Landes. [...] Es war sehr unwahrscheinlich, dass die gebildetste Bevölkerung Europas langfristig eine archaische Regierungsstruktur [...] dulden würde." Diese veralteten Strukturen und ein unmodernes, nicht progressives Steuersystem verhinderten, dass Wirtschaftswachstum in steigende Staatseinnahmen umgesetzt wurden. Jahrelang gab man rund 90 Prozent des Reichshaushalts für Armee und Marine aus und dennoch waren der Kaiser, Politiker und Militärs überzeugt, dass ihr Land in Relation zu den anderen Mächten schwächer würde.
Deutschlands "Schwäche"
Für den deutschen Generalstabschef Helmuth von Moltke war ein Krieg - vor allem gegen das langsam aber sicher aufstrebende Russland - wegen der "deutschen Schwäche" notwendig.
Da die deutsche Bevölkerung einen Angriffskrieg nicht unterstützt hätte, trieb Deutschland Österreich-Ungarn regelrecht in den Krieg mit Serbien hinein, indem es bedingungslose Unterstützung für den Fall zusicherte, dass Russland dem Balkankönigreich helfen würde. Zugleich spielte der deutsche Generalstab ein doppeltes Spiel mit dem Bündnispartner, denn er erwartete, dass bei Ausbruch eines deutsch-russischen Krieges dieser seinen Krieg gegen Serbien hintanstellte und dem deutschen Heer für den deutschen Krieg um die Vorherrschaft in Europa den Rücken für die Operationen im Westen freihielt.
Deutschlands Abstieg
Die Geschichte zeigt, dass der deutsche Plan nicht aufging. Der befürchtete Niedergang des Deutschen Reichs wurde nicht nur nicht verhindert sondern eher erst ausgelöst. In seinen Auswirkungen kam der "Konflikt, den die deutsche Heeresleitung durch die Kriegserklärung an Russland am 1.August 1914 auslöste, [...] erst am 31. August 1994 zum Abschluss, als die letzten russischen Truppen von deutschem Boden abzogen."
Europas letzter Sommer
Die scheinbar friedlichen Wochen vor dem Ersten Weltkrieg
Von David Fromkin, a. d. Amerikanischen von Hans Freundl und Norbert Juraschitz
Karl Blessing Verlag, München 2005
414 Seiten, 28 s/w-Fotos, geb., e 24,70
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