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30.000 Fragezeichen
Der deutsche Staatsbürger Heinrich D., durch eine Verwundung der Entscheidungsschlacht von Stalingrad entkommen, will wissen, wie es seinen Kameraden ergangen ist: Er wendet sich an den Suchdienst des österreichischen Roten Kreuzes (ORK). Nach langwierigen Recherchen konnten drei ausgeforscht werden - sie leben heute in Wien.
So hatten die einstigen Kameraden wieder zusammengefunden, ja sie verbrachten sogar einen gemeinsamen Urlaub in Österreich. Ein rührendes Dankesschreiben war den Mitarbeitern des ÖRK-Militärsuchdienstes in diesem Fall sicher.
Aber dies ist heute nicht immer der Fall. Wenn die geübten Sucher endlich wieder einen Fall geklärt haben, findet sich immer öfter kein Abnehmer mehr für die Erfolgsbotschaft: Die Angehörigen sind bereits verstorben oder haben kein Interesse mehr daran.
Deshalb wird das ORK ebenso wie das Deutsche Rote Kreuz die umfassende Suche nach vermißten Wehrmachtsangehörigen einstellen, es werden nur noch neu eingebrachte Anträge behandelt.
Wie Generalsekretär Hans Polster vom ORK feststellt, lautet das Ergebnis einer Vermißtensuche im Militärbereich heute fast immer „verstorben". Ein Schicksal läßt sich meist bis zu einer Vernichtungsschlacht oder einem Gefangenentransport zurückverfolgen, dann verliert sich die Spur.
Denn: „Wenn bei einem Transport von einem Gefangenenlager in ein anderes, noch dazu im eisigen russischen Winter, von 30.000 nur 15.000 ankommen und der Name des Gesuchten in der Aufnahmeliste fehlt, wird er eben zu den 15.000 Opfern zu zählen sein."
Die Zahl von vermißten österreichischen Soldaten ist zwar sehr groß (rund 30.000 Fälle warten noch auf Klärung), aber sie ist begrenzt. Dies trifft für den Zivilbereich allerdings nicht zu.
Jährlich treffen bei Frau Edith Mu-sil, der Leiterin des Zivilsuchdienstes, 2.500 bis 3.000 neue Anträge ein. Sie lassen sich in vier Gruppen teilen. Ein geringer Prozentsatz der Anfragen geht noch immer auf Folgen aus dem Zerfall der Monarchie zurück. Familienmitglieder leben heute in verschiedenen Staaten, die Kontakte sind abgerissen.
Die Betroffenen sind heute bereits betagt, einsam. Sie wollen ihre Verwandten gern noch einmal sehen, oder zumindest alle im Familiengrab bestattet wissen.
Eine weitere relativ kleine Gruppe betrifft Vermißte aus den Flüchtlingsströmen, die am Ende des Zweiten Weltkriegs westwärts zogen.
Nach dem Weltkrieg wurde Österreich einerseits Auswandererland (vor allem nach Kanada, Australien und in die USA), andererseits Asyl- und Transitland für Flüchtlinge aus Osteuropa. Auch das schlägt sich in der Kartei nieder.
Bei derart weitläufigen Aufträgen erweisen sich die guten Kontakte zu anderen Rotkreuzsuchdiensten und zu staatlichen Stellen als wertvoll. Den Schlüssel zum Erfolg bringt aber vielfach erst die monatliche fünfminütige Radiosendung des ÖRK-Suchdienstes. Trotz erheblicher sprachlicher Barrieren, trotz Schwierigkeiten, liegt die Aufklärungsquote bei zivilen Suchanträgen immerhin bei 40 bis 45 Prozent.
„Aber", unterstreicht Frau Musil, „nicht nur sorgfältige Recherchen, auch eine Portion Fingerspitzengefühl gehört zu meiner Tätigkeit." Sie erläutert das am Beispiel eines jungen Mannes, eines Findelkindes. Die Nachforschungen zeigten, daß seine Mutter, damals Studentin, das Kind weggelegt hatte. Die Frau konnte auch ausgeforscht werden, aber dennoch drohte alles umsonst zu sein: Sie lehnte, inzwischen glücklich verheiratet, die Bekanntgabe ihrer Adresse ab. „Nach der Genfer Konvention muß die Bewilligung des Betroffenen vorliegen, ehe eine Adresse bekanntgegeben werden darf, seufzt Frau Musil, fügt aber stolz hinzu, daß sie die Mutter dann doch noch erweichen konnte.
Uber zu wenig Arbeit wird man sich im ÖRK-Suchdienst auch künftig nicht beklagen. Denn neue politische Veränderungen bringen neues Flüchtlingselend, folglich auch neue, endlose Vermißtenlisten. Beim ORK liegt bereits das erste Ansuchen eines Vietnamflüchtlings - eine scheinbar unlösbare Aufgabe. Dazu Frau Musil: „Wenn Gott will, wird sich auch diese Familie finden."
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