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Digital In Arbeit

4000 Seiten Panter, Tiger & Co.

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Was ist ein Intellektueller? In Abwandlung eines alten Bonmots einer, der Kurt Tucholsky gelesen hat, bevor es „Schloß Gripsholm“ und „Schloß Rheinsberg“ im Fernsehen gab, und weiß, daß er unter den Pseudonymen Panter, Tiger, Hauser und Wrobel schrieb. Aber 4174 Seiten Tucholsky, exakt gezählt — ist das nicht selbst für den Tucholsky-Leser ein bißchen viel des Guten?

Nun ja, eine A-bis-Z-Lektüre seiner „Gesammelten Werke“, in der alten dreibändigen Dünndruckausgabe sündhaft teuer, jetzt in der zehnbändigen Taschenbuchausgabe des Rowohlt-Verlages ganze 601 Schilling billig, wäre wohl ein zeitraubendes Unterfangen. Aber dazu sind sie auch gar nicht da. Wozu dann? Zum Schmökern. Zum Verfolgen gewisser Leitlinien mit Hilfe der ausführlichen Register. Vor allem aber, damit selbst der Immerwieder-leser der diversen Auswahlbände endlich erfährt, daß er seinen Tucholsky überhaupt nicht kannte.

Den Lyriker, der „Augen in der Großstadt“ und „Mutterns Hände“ geschrieben hat, ja, den kennt er natürlich, obwohl es auch da noch eine Menge zu entdecken gibt. Ansonsten kennt man neben dem Verfasser der „Schlösser“ den Satiriker ein bißchen, den Essayisten wenig und den Kritiker fast gar nicht.

Überraschung: Auf diesem Lebenswerk liegt kaum Staub. Weniger, als vor zehn Jahren, weil die Zeiten brutaler geworden sind und wir wieder empfindlichere Nerven für heraufziehendes Unheil haben, und Tucholsky war der Prophet des heraufziehenden Unheils. Staubschichten auf literarischen Werken wachsen nicht kontinuierlich, sie bauen sich auf und ab.

Auch war er alles andere als ein Mann der leichten Schreibe. Seine Leichtigkeit ist das Resultat harter Arbeit. Und oft schlägt sein Witz urplötzlich in Pathos um, aber nicht in das hohle, sondern in das eines Straf Verteidigers, der weiß, daß er für einen . Unschuldigen- kämpft. (StrafVerteidiger wollte er übrigens einmal werden.)

In den „Werken“ sind vor allem zwei verschüttete Tucholskys zu entdecken. Der Zeuge einer Zeit, der Beobachter und Chronist seiner Milieus — und der Kritiker. Wie hat sich das Berliner Theaterpublikum benommen, als es 1919 erstmals einem Stück von Toller konfrontiert wurde? Hat es im Saal vor Spannung geknistert, als der greise Ari-stide Bruant zum letztenMal in Paris auftrat? „... und um den Mund gleitet mitunter ein Zug von Ironie (besonders, wenn die Leute Beifall rufen)...“ Viele Leute haben Bruant zu Hause hängen, als hagere, adamsäpfelige Silhouette auf dem Nachdruck eines Plakates von Toulouse-Lautrec, aber sie wissen es nicht. Tucholsky schreibt über einen Abend, an dem der berühmte, große Ludwig Hardt aus dem Werk des unbekannten, armen Franz Kafka liest. Aber wer war Ludwig Hardt?

Aufregend, mit Hilfe des überkompletten Namensregisters Tucholskys literarische Urteile zu verfolgen. Kafka wurde nicht nur von Max Brod, sondern auch von ihm durchgesetzt. Brecht hat er immer wieder gerupft, aber auch geschätzt, Alfred Döblin geschätzt, aber auch — anläßlich einer ungerechten Behandlung von Remarque durch Döblin — gebeutelt: „Dieser maßlos überschätzte Schriftsteller.“ Sein eigenes Urteil war die einzige Instanz, die er gelten ließ, unbekümmert um Lukäcs und Kerr.

Er hat Karl Kraus schon vor dem Ersten Weltkrieg für sich entdeckt und bewundert, 1919 schreibt er ein Gedicht auf die „Fackel“, manche Worte von Karl Kraus werden von Tucholsky immer wieder zitiert, so das von Deutschland als der „verfolgenden Unschuld“.

Ein Kosmos von 4000 Seiten für wenig Geld. Erst hier erfährt selbst der Immerwiederleser der gängigen Auswahlbände, daß er Tucholsky eigentlich nicht kannte. Freilich würde er nun dessen Briefwechsel brauchen, um zu merken, daß er ihn noch immer nicht kennt. Doch leider gibt es die Briefe noch nicht als Taschenbuch.

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