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Alt und neu
Die Zeit der Neujahrsfeier ist sehr raffiniert gewählt. Man feiert das Neue Jahr im Moment seiner Geburt, solange man noch keine Erfahrungen mit ihm gemacht hat. Das ist sehr vernünftig: Einen Tag später könnte es schon zu spät sein, denn das Neue Jahr könnte inzwischen seine Krallen gezeigt haben.
Es ist zugleich die Abschiedsfeier für das alte Jahr. Daß so vie-
le Menschen in der ganzen Welt mit so viel Freude das alte auf Nimmer-Wiedersehen verabschieden, beweist, daß nur wenige es als gutes Jahr empfunden haben. Und es war immer so, seit sich die Menschheit an sich selbst erinnern kann.
Gründe zum Feiern gibt es keine. Die Geschichte zeigt, daß bislang noch jedes neue Jahr alt geworden ist, ohne die mit ihm verbundenen Hoffnungen zu erfüllen. Zu den „guten alten Jahren“ wird ein jedes Jahr erst dann gezählt, wenn die Augenzeugen ausgestorben sind oder an Gedächtnisschwund leiden.
Der Brauch, etwas im voraus zu feiern, ist ein Ergebnis der in
Jahrtausenden gesammelten Lebensweisheit. Eine Hochzeit ist die höchste Zeit und letzte Möglichkeit, sich über die eben entstandene Ehe zu freuen; die späteren Hochzeitstage bieten nur die melancholische Freude, daß man es so lange ausgehalten hat.
Bei jeder Machtübernahme—ob das Neue Jahr die Macht über die Menschen ergreift, eine neue Regierung oder ein neues Regime — beteiligen sich an dem allgemeinen Jubel auch viele Menschen, die eigentlich weinen sollten, weil sie von den neuen Machthabern nichts Gutes erwarten können.
Die Menschen sind eben — auch diejenigen, die sich für Pessimisten halten — in bezug auf die Zukunft unerschütterliche Optimisten. Und Abenteurer. Die Zukunft ist immer ein Abenteuer, ein unbekanntes Land, voller Überraschungen.
Und recht haben sie, die Optimisten! Das Abenteuer der Zukunft ist unvermeidlich. Es ist besser, sich in guter Laune und in leichtem Rausch auf den Weg zu machen.
Und dann: Wie das alte Jahr war, wissen wir alle. Wie das neue sein wird, weiß keiner. Aber die paar Ubergangsstunden haben wir uns nach unserem Geschmack gestalten können. Haben wir es
Schritt ins Ungewisse
(Karikatur Sattler)
geschafft, der Zeit einige frohe Stunden zu entreißen, kann sie uns dann niemand mehr wegnehmen.
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