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Wünsche

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Ein paar Tage ist das neue Jahr erst alt.

Man hat Glück gewünscht vor ein paar Tagen und Gesundheit und denen, die man besonders mag, hat man das gewünscht, was sie sich selbst wünschen, viel Gutes ist einem selbst gewünscht worden und mitten im Wünschen war das neue Jahr wohl da.

Als Kind wollte ich immer schon etwas anderes wünschen zu diesen Wunschfesten, etwas, das sich ganz anders anhört als das ewige „Glück" und „Gesundheit" und „alles Gute". Etwas, wofür der Bewünschte zuerst freundlich lächelnd dankt, weil sich's so nett anhört, und nach einer Weile erst draufkommt, daß er zur Erfüllung dieses Wunsches selbst was tun müßte und das rasch, daß der Wunsch eigentlich eine Frechheit oder eine Wahrheit, eine Utopie oder eine Liebeserklärung oder alles zusammen war.

Ich möchte noch immer so wünschen. In Wahrheit nur so. Ihnen, die Sie mich lesen, möchte ich so wünschen, denn Sie sind mir bekannt geworden im Laufe dieses hinter uns liegenden Jahresringes 1979, gehören also zu meinem Bekanntenkreis, aus dem man ja auch die wenigsten wirklich kennt. Ich wünsche Ihnen also die Utopie der Gesundheit an Leib und Seele. Wir waren, nämlich alle einmal so gedacht Hochzuachten und zu pflegen wären beide. Gesun-denuntersuchung für die Seele wünsche ich Ihnen, denn ihre Krankheiten sind ansteckender Natur, und ihr Nächster, der Leib, merkt das erst oft so spät Fürchten Sie sich nicht, zum Arzt des Leibes zu gehen, Sie können gar nicht gesund sein, schauen Sie um sich, wie wir leben, der Arzt wird etwas finden. Bestaunen und pflegen Sie lieber die geheimnisvollen und herrlichen Kräfte, die uns trotzdem „gesund" und am Leben erhalten.

Ich wünsche Ihnen das Glück, sich einmal während des kommenden Jahres zu verlieben. Aber Sie müssen dabei wirklich den Kopf verlieren, nicht wissen, wie Sie die nächste Stunde überleben sollen und außer sich geraten. Und wenn Sie wirklich ganz außer sich selbst geraten sind, dann soll diese Verliebtheit abIdingen und Sie sollen in sich selbst zurückfallen und nichts von diesem Selbst möge mehr wie vorher sein.

Ich wünsche Ihnen die Begegnung mit einer Landschaft, deren Schönheit sich auf Ihrer inneren Netzhaut so festsetzt, daß die Erinnerung an sie Ihnen wehtut, und Sie die Landschaft kein zweites Mal mehr aufsuchen wollen.

Ich wünsche Ihnen, daß Sie, statt zum Telefonhörer greifen zu können, mindestens zwei oder gar dreimal im kommenden Jahr einen Brief mit der Hand schreiben müssen.

Ich wünsche Ihnen einen halben Wochentag in den Straßen Sofias und einen in denen von Belgrad.

Ich wünsche Ihnen ein Kind, das von Ihnen behauptet, Sie seien „Spitze", obwohl Sie ihm gar nichts geschenkt haben. Und ich wünsche Ihnen einen einzigen Tag im kommenden Jahr, an dem Sie vor sich selber stehen und sich kopfschüttelnd fragen: „Wie habe ich es nur so weit kommen lassen können?"

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