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Jahreswende? Na und?

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Alle sagen, das alte Jahr ist zu Ende, das neue Jahr kommt - na und? Was ändert sich? Hätte man zufällig keinen Kalender, würde man nichts merken.

Natürlich kann man sich freuen, daß ein Jahr vorbei ist und wir noch immer leben, trotz der Friedenspolitik aller Groß- und Kleinmächte, trotz Erdbeben, UNO, Umweltverschmutzung, Steuerreformen, Abrüstungsverhandlungen und so weiter. Gäbe es aber keine Jahre, könnte man sich darüber jeden Tag, ja jede Minute freuen.

Der Jubel über den Jahreswechsel ist auch ziemlich banal - schließlich kommt ein neues Jahr jedes Jahr wieder. Jahre sind eine ziemlich solide Ware. Sie werden pünktlich geliefert, und jedes hält genau ein Jahr, keine Sekunde weniger. Wie in alten handwerklich-frühkapitalistischen Zeiten.

Inzwischen wurde aber die Produktion der Jahre verstaatlicht. Man sieht das an der Qualität der Ware. Ja, früher gab es Jahre, fragen Sie nur die Alten! Und heute?...

Vor allem aber erkennt man die Verstaatlichung daran, daß die Produktion keine Rücksicht auf die Nachfrage nimmt. Wie im Sozialismus. Ich möchte gern ein paar Jährchen auf Vorrat - für diesen Zweck und gegen diese Sicherheit wird mir die Bank gern Kredit geben -, nichts zu machen. Reglementiert. Allerdings gerecht: Es gibt keine Protektion und keinen Schwarzmarkt. Auch die schwarzen Jahre werden einem zugeteilt.

Das Jahr ist eine staatliche Erfindung. Wie könnte man sonst Dienstjahre berechnen, Jahresetats und -de-fizite erstellen? Sonst wäre die Einteilung in Jahre nur für wenige Berufe wichtig. Zum Beispiel für die Landwirte oder Astronomen. Den anderen könnte es egal sein, ob sie am 2. 1. oder am 67. 89. wieder zur Arbeit müssen.

Wie alle staatlichen Erfindungen, versucht auch das Jahr unser privates Leben zu beeinflussen. Der Kalender soll uns klarmachen, daß wir nicht mehr so jung sind, wie wir sind. Manche beeindruckt das sogar. Die einen positiv - sie glauben, daß sie mit dem zunehmenden Alter klüger und erfahrener werden; die anderen negativ - sie lassen sich einreden, daß sie mit der Jugend auch jegliche Attraktivität verlieren. Der Kalender ist aber nur Papier, mit konventionellen Zahlen bedruckt. Wer mit zwanzig ein Trottel war, ist mit siebzig eben ein erfahrener Trottel; wer mit sechzig uninteressant ist, war mit fünfundzwanzig allenfalls nur als Sexobjekt interessanter.

Und dann: Mit den Jahren verlieren die Jahre an Wirkung. Ein Zwanzig-j ähriger wird nach einem Jahr um fünf Prozent älter, ein Fünfzigjähriger nur um zwei Prozent. Ob das eine Aufoder Abwertung ist und wieviel sie in absoluten Werten beträgt, ist von Fall zu Fall unterschiedlich.

Das Neujahr und seine Feier ist so was wie eine Theaterpause - man geht ans Büffet auf ein Gläschen und kommt auf seinen Platz zurück. Die Optimisten hoffen dabei, daß der nächste Akt besser sein wird als die vorigen.

Diese Zeilen versuchen dauernd, sentimental predigthaft zu werden. Ich muß mich heftig wehren. Das macht die Zeit um die Jahreswende. Dabei ist der Jahreswechsel - wenn man von der astronomischen Seite dieses Phänomens absieht - ein einziger Schwindel. Man wird ja in der Nacht von Silvester auf Neujahr nicht um ein Jahr, sondern nur um eine Nacht älter, wie an jedem anderen Tag auch. Kein besonderer Grund also, Bilanzen zu ziehen und gute Vorsätze zu deklarieren.

Die Bilanzen werden sowieso frisiert, weil wir auch sonst von unseren Passiva wissen, von denen wir nichts wissen wollen. Und gute Vorsätze, die man erst im nächsten Jahr verwirklichen will - da ist eine Nacht Aufschub auch zuviel -, sind eine Betrügerei wie das Ausschreiben von ungedeckten Schecks.

Damit aber niemand durch Nachsinnen über die kurze und erfundene Einheit „Jahr" lange und reelle Minuten oder Stunden vergeudet - wurde zwischen das alte und das neue die Silvesternacht hineingeschoben, die das mit Zwangsgeselligkeit und Sekt verhindert. Prost!

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