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Amaryllis und Nordwind

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Die Luft schmeckte nach Abschied, als sie sich im Schutze einer vorüberziehenden Wolke erhoben und in Richtung Wales abflogen. Da das Wetter schön war, mußten sie hoch emporsteigen, um von der Erde aus nicht gesehen zu werden. Und Nordwind erzählte ihnen von den Städten und Plätzen, von den Flüssen und Wäldern, die tief unter ihnen lagen und zum Teil von lichten Nebelschwaden bedeckt waren.

Sie landeten an einer einsamen Stelle der Küste, die weit von jeder Siedlung der Enterischen entfernt war. Es war auch eine derjenigen, die eine besondere Art von Strömung, der die Enterischen auswichen, sauber gehalten hatte, so daß weder Teer, öl noch Küchenabfälle der großen Schiffe angeschwemmt wurden.

Ein wenig wärmten sie sich im Sonnenlicht, doch Amaryllis Stern-wieser schien in Gedanken schon ganz woanders zu sein, und als Alpinox ihr die paar Schritte bis zum Wasser folgen wollte, hielt Nordwind ihn zurück. Sie sahen, wie Amaryllis Sternwieser die Arme hob und gegen den Wind sprach. Dann erst folgten sie ihr. Und da merkten sie auch schon, wie das kristallene Boot sich vom Horizont her näherte.

Kommst du mit? fragte Amaryllis Sternwieser Nordwind. Nordwind schüttelte den Kopf, daß ihr weißer Blumenhut zu tanzen anfing. Es ist noch nicht lange genug her, daß ich das letztemal in Avalon war.

Und Sie, fuhr sie an Alpinox gewendet fort, sollten auch lieber darauf verzichten, unsere liebe Freundin zu begleiten.

Alpinox schaute vor sich hin und konnte sich zu keiner Antwort entschließen.

Sie können ruhig mitkommen, wenn Sie wirklich wollen-, sagte Amaryllis Sternwieser, aber aus ihrem Ton ging hervor, daß sie kaum gewahr wurde, was sie sagte.

Wie lange wollen Sie denn bleiben? fragte Alpinox.

Oh, nicht lange, erwiderte Amaryllis Sternwieser rasch. Am Abend schon werde ich wieder hier sein ...

und mit diesen Worten setzte sie ihren Fuß in das kristallene Boot, das genau vor ihr gehalten hatte. Eine herrliche Musik erklang und übertönte, ohne laut zu sein, die Abschiedsworte von Alpinox. Wir werden auf Sie warten ... rief er, aber da saß Amaryllis Sternwieser schon in der Barke und fuhr schnell und ohne sich noch einmal umzudrehen, davon.

Alpinox seufzte. Glauben Sie wirklich, liebe Nordwind, daß sie nicht lange fortbleiben wird?

Lange? fragte Nordwind lächelnd. Was heißt schon lange, bei unseren Jahren. Selbst wenn sie nur einen Nachmittag lang in Avalon bleibt, kann das für uns hier draußen Jahre an enterischer Zeit bedeuten.

Ich hätte sie also doch besser begleiten sollen?

Nordwind schüttelte den Kopf Dorthin, und sie deutete in die Richtung, in der das kristallene Boot verschwunden war, geht man besser allein. Eine jede von uns erwartet etwas anderes in Avalon, und es ist immer ein Geheimnis, was uns erwartet, aber es betrifft nur uns selbst. Die Tage, in denen Avalon aus ewigem Frühling und Festen bestand, sind vorbei, so wie nichts beim alten geblieben ist. Ich fürchte, wir werden dem sehr bald Rechnung tragen müssen.

Alpinox nickte. Ich weiß, sagte er, ich weiß, wir alle sind vom Gesetz nicht ausgenommen, auch wenn unsere Zeit anders abläuft, sie läuft ab. Nur, wo werden wir sie wieder treffen, wenn sie zurückkommt?

Lassen Sie das meine Sorge sein. Wir Feen sind soweit miteinander verbunden, daß ich den Tag und die Stunde wissen werde.

Aber was tun wir in der Zwischenzeit? Alpinox machte ein ratloses Gesicht. Zu sehr hatte er sich darauf eingestellt gehabt, Amaryllis Sternwieser zu begleiten.

Nun, meinte Nordwind lächelnd, eine schwierige Frage oder vielleicht doch nicht? Wie wäre es mit Grönr land oder dem Pol? Ich habe in dieser Gegend zu tun, und wenn Sie Lust haben...?

Grönland, der Pol? ... Alpinox' Gesicht begann sich aufzuheitern. Die Berge sind mir immer lieb, auch wenn es Eisberge sind.

Also dann kommen Sie, rief Nordwind und streckte Alpinox einladend die Hand hin. Wir nehmen den Weg übers Meer, da bleiben wir ungesehen, wenn wir den großen Schiffsrouten ausweichen. Und schon erhoben sie sich wieder, diesmal formiert wie ein Keil ziehender Wildgänse, an dem nur seltsam war, daß er um diese Jahreszeit gegen Norden flog.

Immer mehr genoß Alpinox den Flug durch die Lüfte und er spürte weder Kälte noch Wind, während er so mit Nordwind übers Meer zog. Sie hielten auch nicht an, bis sie die ersten schnee- und eisstarrenden Vorposten der Grünen Insel sahen und Cape Farewell in Sicht kam. Und bevor sie zur ersten Landung ihrer großen Nordlandreise ansetzten, wünschten beide sich in dicke Eskimo-Pelze, so daß sie kaum aufgefallen wären, hätte jemand sie dort getroffen.

Lachend und Arm in Arm vertraten sie sich die Beine und Alpinox war voll des Lobes über Nordwinds Idee, der er immer mehr Geschmack abgewann. Jetzt aber sollten wir uns auf enterische Weise kräftig stärken, meinte Nordwind und schon hielten sie auf eine kleine Siedlung zu, die Nordwind bestens zu kennen schien.

Schnell wie ein Gedanke flog die Barke dahin, in der Amaryllis Sternwieser stand. Sosehr sehnte sie sich dem Land entgegen, daß sie sich nicht einmal setzte, und als das Licht immer stärker wurde, wurde auch ihr Herz immer weiter, und ehe sie sichs versah, lief die Musik in ein silbrig klirrendes Geräusch aus und das kristallene Boot fuhr bis weit an den Strand -hinauf. - - ws

Wie schön, rief Amaryllis Sternwieser, als sie der vielen Apfelbäume ansichtig wurde, die in voller Blüte standen und sich in einem leichten zärtlichen Wind hin und her wiegten. Wiederum erklang Musik, aber diesmal war es so, als käme sie geradewegs aus den Blüten, und als sie genauer hinhörte, war es, als seien auch Worte darunter, die die Blüten einander zusangen. Und wie sie so Fuß vor Fuß setzte, schien ihr, als entstünde der Pfad vor ihren Füßen und sei nur für sie. Sie schritt so beschwingt und leicht aus, daß sie bald bis ins Innere der Insel vordrang, ohne jemandem zu begegnen, obwohl die Luft voller Summen und Tönen war. Es herrschte eine festliche Stimmung und Amaryllis Sternwiesers Schritte wurden immer mehr zu einem Tanz und ihre Kleidung löste sich auf in weiße seidene Tücher, die sich liebkosend um ihren Körper schmiegten.

Die Apfelbäume hatten sich gelichtet und machten einer satten grünen Wiese Platz, die von Blumen übersät war, die sich ebenfalls hin und her wiegten, und als ihr Pfad vor einem kleinen Bach endete, dessen dunklere Stimme ihr zu bleiben und zu trinken befahl, ließ sie sich nieder und schöpfte mit den Händen Wasser an ihren Mund. Und sie trank und trank, als könne sie nie genug von diesem herrlichen, süßen Wasser bekommen, und schon während sie trank, spürte sie die Veränderung, die mit ihr vorging. Und sie spürte das Wasser nicht mehr in sich hineinsinken, sondern in ihr emporsteigen, langsam und von den Wurzeln her. Sie fühlte, wie es in all ihre Zellen drang, bis sie satt waren und gezwungen, sich zu dehnen, zu wachsen. Sie spürte, wie ihr leichter Leib sich aufrichtete und der Sonne entgegenstrebte. Wie ihr Kopf sich zu sternförmigen Blättern entfaltete, und ihre eigene Kraft ließ sie erschaudern, während ihre Gliedmaßen weit unten und untätig blieben. Sie war wie betäubt von dem Duft, den sie wissentlich und mit solcher Sehnsucht verströmte, daß die Kraft ihres Gefühls sie überwältigte. Und obwohl sie keine Augen mehr hatte, sah sie, und obwohl sie keine Ohren mehr hatte,

hörte sie und nahm wahr, mit einer Empfindlichkeit, an die sie sich durch all ihre Leben hindurch kaum mehr erinnern konnte.

Es ist schwer, in Worte zu fassen, was sie empfand, weil sie alles auf eine so andere Weise wahrnahm und alles eine so andere Welt zu sein schien, und dennoch empfand sie, empfand mit solcher Heftigkeit, daß sie einer jeden ihrer Empfindungen vollkommen ausgeliefert schien. Auch sie begann leise hin und her zu schwingen, und wieder spürte sie, wie sie wuchs und sich streckte, wie sie sich dehnte und emporreckte, und auf einmal schien alles in ihr einer ganz bestimmten Berührung entgegenzuwachsen, einer Berührung, die sie wie nichts anderes ersehnte, und ihr Innerstes wölbte sich immer mehr nach außen in einem Vorgefühl der Lust, wie sie es rückhaltloser und ausgesetzter seit Urzeiten nicht mehr gekannt hatte. Sie war eins mit sich selbst, ungeteilt in Herz und Verstand, ungeteilt in Gefühle und Gedanken, ungeteilt in Geist und Fleisch.

Es wurde heller und heller und sie spürte, wie das Wasser in ihren Zellen sich erwärmte, wie der Prozeß der Umwandlung der Elemente sich verlangsamte und wie das Verlangen immer schwerer auf ihr lastete. Angst kam in ihr auf, daß sie vergehen könnte, ohne der Berührung teilhaftig geworden zu sein, und sie sammelte alle ihre Kräfte, um mehr zu werden, mehr trotz der beginnenden Lähmung durch den Mittag, und sie spürte, wie die Erde sich drehte. Immer öfter fühlte sie, daß die Berührung auf sie zukam, daß Schatten über sie hinwegflogen. Sie nahm die Schwingung der Laute wahr, mit der die Berührung an ihr vorüberzog, spürte den Lufthauch der Flügel, mit dem sie an ihr vorüberschwebte, spürte auch das wollüstige Erzittern anderer, die die Berührung getroffen hatte.

Aber noch war sie nicht, was sie sein konnte. Noch spürte sie, obwohl es sie immer mehr Kraft kostete, daß sie noch wachsen konnte, daß ihr Duft noch stärker sein mußte, und sie holte immer mehr von ihren Wurzeln empor, bis die Ränder ihres Kelchs orangerot erglühten, wetteifernd sogar mit der Sonne, deren Kraft sie zu der ihren machte. Die Anstrengung hatte sie erzittern lassen, und obwohl sie von weitem schon die Ermattung zu spüren glaubte, die ihr bevorstand, hob sie sich noch um ein Weniges mehr dem Licht entgegen. Dann geschah es. Das Licht verdunkelte sich und der Anprall ließ sie erbeben, daß sie wild zu schwanken begann, bis auch da ihre Kraft siegte und sie stillstand in der grenzenlosen Lust der Berührung, völlig hingegeben jenem Fremden, Anderen, das all ihrer Kraft den Sinn und die Vollendung gab.

Und als sie dann leicht unter der Berührung wieder wegtauchte, spürte sie die Ermattung über sich kommen, das plötzliche Ruhen der Kräfte, die Vollgesogenheit und die Stille, die Wahrnehmung, daß das Wachstum für kurze Zeit zum Stehen gekommen war. Und sie senkte ihren Kelch, um sich auszuruhen, um die Anstrengung, die ihr von neuem bevorstehen würde, zu vergessen, bis ein anderer Vorgang sie ihr bedingungslos abfordern würde.

Als Amaryllis Sternwieser erwachte, dauerte es eine Weile, bis sie sich in ihrem Feenleben wieder zurechtfand. Sie lag an jenem Bach, inmitten einer Wiese, und als sie sich aufrichtete, stand die Sonne bereits im Westen, obwohl es noch Nachmittag war. Sie fühlte sich erfrischt und verwandelt, obwohl alles an ihr wieder so war, wie bei ihrer Ankunft. Das also war mein Geheimnis in Avalon, dachte sie, und während sie sich langsam erhob, ließ sie einen langen zärtlichen Blick über all die Blumen gleiten, die sich noch immer nach jener seltsamen Musik hin und her wiegten.

Ich muß zurück, dachte sie, Alpinox und Nordwind werden auf mich warten. Und tänzelnden Schritts ging sie durch all die Apfelbäume an die Küste zurück. Als sie am Ufer anlangte, stand das kristallene Boot schon bereit, und sie hatte wieder ihr dunkelgraues, gestreiftes Reisekostüm an und den weichen Filzhut, und der dunkle Tuchmantel hing über ihrem Arm.

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