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Anatomie eines Mythos
Während vier Jahren hatte Frankreich seine „Semaine Musdcale Internationale“ (SMIP). Sie gehörte zu den wichtigsten musikalischen Ereignissen des Jahres, und die Programme, in Form von Dossiers, lieferten tiefschürfende und umfassende Information über zeitgenössische Komponisten. Dieses Jahr fand zum ersten Mal das „Festival d'Automne ä Paris“ statt, an der die „Semaine Musicale“ mit einer Aufführung beteiligt war.
„Addio Garibaldi“, die neue Oper von Girolamo Arrigo (geb. 1930), deren Premiere in den einst „heiligen“, inzwischen jedoch entheiligten Hallen der Opera Comique stattfand und die er selbst als „spectacle“ bezeichnet, ist ein ernstes, ein engagiertes Werk, das sich jedoch unterhaltend und populär gibt und dadurch gewissermaßen ins Schwarze trifft. In grellen Farben, marionettenartig, sind die diversen Charaktere gezeichnet, die verschiedenen Ereignisse sind kunterbunt durcheinandergeworfen und folgen weder einer chronologischen noch einer logischen Ordnung, sondern illustrieren ä la Puppenspiel ein „Heldenleben“, das heute, legendenumwoben, in der Volkssage fortlebt und nun von Arrigo endgültig entmystifiziert wird.
Bereits für „Orden“, das vorhergehende Bühnenwerk, das 1969 in Avignon Aufsehen erregte, wählte Arrigo ein politisches Thema, und zwar die spanische Diktatur, die in Wort und Ton, Geste und Bühnengestaltung erbarmungslos angegriffen wurde. Diesmal wagt er sich an eine Legende, und er zeigt uns einen winzigen, zeitweise überlegenen, zeitweise lächerlichen Garibaldi, der hoch oben auf einem überdimensionalen trojanischen Pferde hockt und aus dieser Sicht kommentiert und Betrachtungen anstellt, manchmal schmunzelnd, manchmal bestürzt über den Lauf der Geschichte, denn so hatte er sich die Befreiung Italiens nicht vorgestellt, so hatte er es nicht geplant.
Im, erstem Akt, „Evocations“, steigt er gelegentlich von seinem Pferd herunter und greift persönlich in die Handlung ein: etappenweise verfolgt man den Feldzug des Nationalhelden, seine Verbannung nach Südamerika, die Besetzung Roms und die Flucht des Papstes, die Fahrt nach Palermo, die Proklamation der Diktatur in Sizilien und die Zusammenkunft mit dem König.
Im Orchestergraben befindet sich nur ein Klavier, die Musiker spielen auf der Bühne, tragen Kostüme, gehören zur Handlung und bilden Ensembles, die je nach der Situation aus zwei Kontrabässen und zwei Celli, einer Tuba und einer Harfe, 24 Blockflöten, einer Flöte mit Gitarre oder Baßklarinette mit Trompete und Flöten bestehen. Der Dirigent (Charles Ravier) leitet die Musik sitzend, stehend, kauernd, schreitend und ist in die Aktion verwickelt, das Schauspieler-Tänzer-Sänger-Musiker-Team ist einheitlich und vollbringt Erstaunliches, Text und Regie stammen von dem Komponisten. Im zweiten Akt, „Mythologie“, wird Garibaldi zu .einer legendären Gestalt, überlebt seine Idee, wird zu einem Denkmal degradiert und dadurch verharmlost. So tritt er ■in die Geschichte ein, die ihn verfälscht und verrät.
Musikalische Anleihen bei Wagner, Verdi, Donizetti, Mozart und Monteverdi würzen die Partitur, ohne ihrer Originalität Abbruch zu tun. Das Absurde siegt auf der ganzen Linie; das Publikum fühlt sich davon überrumpelt und weiß nicht recht, ob es lachen oder weinen, pfeifen oder klatschen soll, die Reaktion ist zwiespältig, die Kritik verhält sich eher ablehnend.
Zwar lieferte die „Opera Comique“ für diese musikalische Farce den richtigen, echt surrealistischen Rahmen, aber sie lieferte das falsche Publikum. Bei der Jugend sollte die „Message“ besser ankommen. Daß sie bei der Premiere in der Luft hängen blieb, lag an den Hörern und an ihren Vorurteilen, nicht an Arrigo und den dreizehn Musikern und zwölf Schauspielern, die sich zusammen mit dem Dirigenten rückhaltlos für das Stück einsetzten.
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