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Anzengruber-Syndrom

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In meiner Schulzeit übten an die zwanzig Professoren und Professorinnen Einfluß auf mich aus oder versuchten es zumindest. Ja, und ein Gymnasium-Direktor.

Warum ich das erwähne? Weil einer der Professoren, bemerkenswerterweise jener für Religion (er hieß Kornfeld und sei für alles, was er tat, gepriesen: er war klug, streng, humorvoll und unkonventionell, so ganz das Gegenteil der landläufigen Katecheten-Karikatur), weil

dieser Professor ein beginnendes Anzengruber-Syndrom, vorbereitet von einem leichten Ovid-Trauma, an mir und meinen Mitschülern aufzuheben imstande war. Und das kam so.

In jenen frühen fünfziger Jahren (Himmel, so alt bin ich schon), als die Matura vor unserer Nase stand, gingen wir von der Octava besonders gern ins Theater. Billiger wurde das durch die Institution des Theaters der Jugend, eines über die Schule funktionierenden Diskontunternehmens. Und da spielten sie in der damals noch als Theater existierenden Scala im Wiener vierten Bezirk Anzengrubers „Das vierte Gebot“. Wir bestellten Karten. Und unser Schuldirektor, von der drohenden Verderbung (das Wort muß es geben!) seiner Schüler alarmiert, untersagte uns den Besuch der Aufführung.

Wir waren ziemlich überrascht, zumal da uns das Verbot einen Tag vor der Vorstellung erreichte, doch waren wir auf derlei andrerseits irgendwie vorbereitet. Wenige Wochen zuvor hatte doch ebenderselbe Direktor, der auch auf seinen

„Hof rat“ viel Wert legte, eine unserer Lateinstunden besucht und im letzten Moment eine Stelle aus Ovid, die gerade durchgenommen werden sollte, händeringend zensuriert, wir mußten zwölf Zeilen überspringen. Weil, er begründete es unpädagogischerweise vor unseren Ohren dem Lateinprofessor, da drin das Zeitwort „labiare“ vorkam.

Ach ja, wir hatten damals wenig übrig für die alten Römer und ihre schriftlichen Hinterlassenschaften, aber so schnell wurde noch nie der Stowasser zurategezogen, labiare und überhaupt das Dutzend Zeilen waren rasch übersetzt, und ein wenig enttäuscht waren wir schon. Lippen beißen, na das konnte uns wahrlich nicht sehr gefährden. Unter anderem, weil wir uns darunter nicht viel vorstellen konnten.

Jetzt aber, beim Vierten Gebot, mußte wohl mehr dahinterstecken, wir besorgten uns, natürlich, das Textbuch. Und da war plötzlich die nächste Stunde mit „dem Kornfeld“, und er war wie immer über uns informiert und was tat er? Er ging das Drama mit uns durch (ohne Angst übrigens, daß es mit uns durchgegangen wäre).

Er warb auch, ohne dessen Reputation anzukratzen, ein bisserl verschmitzt um Verständnis für den Herrn Hofrat. Vermutlich hat er auf diese Weise einige von uns vor der späteren Neigung gerettet, im Verbotenen gar zu Reizvolles zu sehen: 100 zu fahren, wo nur 50 erlaubt sind, im Supermarkt die Zitronen zu stehlen, Rauschgift zu nehmen und kleine Kinder am Rost zu braten.

Wir aus der Achten haben den Kelch, der damals knapp an uns vorüberging, das Anzengruber-Syndrom genannt. Der Dichter der Kreuzelschreiber und des Pfarrers von Kirchfeld kann da nix dafür, mir aber fällt's wieder ein, da er in diesen Tagen seinen hundertsten Todestag und - Freunde der runden Zahlen, was wollt ihr mehr? - seinen 150. Geburtstag hat.

Tempora mutantur. Die Gymnasiasten des eben zu Ende gehenden und so gar nicht begangenen An-zengruber-Jahres müßten vor ganz anderem beschützt werden.

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