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Bilder einer heilen Welt

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Dieses ursprünglich jiddisch geschriebene Buch ist zunächst in Amerika erschienen und führte ln der englischen Übersetzung den Titel „Beth Din“. Das bedeutet sowohl Synagoge wie Gerichtshaus. Denn die Funktion des Rabbiners war, in jenen Breiten, die hier geschildert werden, die eines Seelenhirten und Gesetzeshüters. Zugleich erzählt Singer die Geschichte einer Familie, deren Oberhaupt Rabbi und Richter in einem war.

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Dieses ursprünglich jiddisch geschriebene Buch ist zunächst in Amerika erschienen und führte ln der englischen Übersetzung den Titel „Beth Din“. Das bedeutet sowohl Synagoge wie Gerichtshaus. Denn die Funktion des Rabbiners war, in jenen Breiten, die hier geschildert werden, die eines Seelenhirten und Gesetzeshüters. Zugleich erzählt Singer die Geschichte einer Familie, deren Oberhaupt Rabbi und Richter in einem war.

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Diese Doppelfunktion ist auf die Überzeugung gegründet, daß ohne Gottesfurcht keine Gerechtigkeit möglich ist, und daß die besten Urteile jene sind, denen -alle Parteien, auch wenn sie einander kurz vorher noch laut schreiend beschuldigt haben, guten Willens zustimmen. Mütterlicher- wie väterlicherseits stammt Isaac Bashevis Singer von Rabbinern ab, seines Vaters Vater war Hilfsrabbiner im Tomaszow, ein entfernterer Vorfahr war ein Schüler des Baal Schern, des Begründers des Chassidismus.

Auch Singers Mutter war streng erzogen, ähr Vater lebte nach dem Gesetz, las nur die heiligen Bücher, keine Zeitungen und Zeitschriften, auch nicht solche in hebräischer Sprache, wie sie damals aufkamen, und als ihr zwei Heiratsanträge übermittelt wurden, fragte sie nicht nach Geld und Aussehen, sondern: „Welches ist der größere Gelehrte?“ Und als man ihr sagte: „Der aus Tomaszow“, wählte sie diesen zum Mann.

Isaac Bashevis Singer verbrachte seine Jugend in der Krochmalstraße in Warschau. Das Kind lernte erst die heiligen Bücher, dann erst das Leben kennen. Vom Himmel war nur ein schmaler Streifen zu erblik- ken. Aber immer wieder drängte die Welt ins Haus und störte den Frieden. Wenn die Familie den Tscholent gegessen hatte, stimmte der Vater die sabbatlichen Tischlieder an und wiegte sich im Gebet. Nur hier im Haus war Sabbatfrieden, bei den heiligen Büchern; auf der Straße, schon wenn man auf den Balkon trat, hörte man Geschrei und Aufruhr, es gab Diebstähle, Überfälle und Ungerechtigkeit…

Zu Rabbi Singer kamen sie alle, ihm ihre Schwierigkeiten zu schildern, um Hilfe und um ein Urteil zu bitten: wen man heiraten soll und ob man sich scheiden dürfe, wie man sich zu verschiedenen Erscheinungen in der modernen Welt verhalten solle — und oft hörte der Sohn heimlich zu. Aber eben von dieser Welt wußte der Vater nicht viel, nur das Allemotwendigste. Denn bei vielen frommen Juden war es der Brauch, daß sich die Frau um den Unterhalt der Familie zu kümmern hat, während der Mann liest, meditiert, schreibt: ganz damit beschäftigt, ein Jude zu sein und als solcher nach dem Gesetz zu leben.

Dann kam der Krieg, Warschau wechselte mehrmals das Kommando, hier waren viele Rabbiner zusammengeströmt, die in den kleineren Orten überflüssig geworden waren und nichts mehr zum Leben hatten. Denn sie fristeten ihre bescheidene Existenz ja von dem, was man ihnen brachte, nur wenige waren etwas begütert. Sie wußten nicht recht, welcher Seite — den Russen oder den Deutschen — sie ihre Sympathien zuwenden sollten; die

Welt, die altvertraute, war ins Wanken geraten. Und als eines Tages gefangene Kosaken, die Gefürchteten, beim Holzfällen versuchen, ein wenig Jiddisch zu lernen, da glauben die Juden, der Messias könne nicht mehr fern sein.

Nach der Revolution gibt es vielerlei Neues: neben den Orthodoxen und den Zionisten tauchen auch junge Juden auf, die mit den Bolschewiken sympathisieren. Es gibt sowjetisch-jüdische Schriftsteller, wie Märkisch, Schwarzstein, Hoffmann, Kwitkow und Fefer. Und Jonah Ackermann eröffnet eine jüdische Bibliothek, aus welcher der junge Singer sich fast täglich ein neues Buch holt und verschlingt: er kannte bereits Schalem Alejechem, Peretz, Schalom Asch und Bergelson, nun liest er auch Dostojewski, Strindberg, Turgenjew, Tolstoi und Maupassant. Damals mag er auf den Geschmack, selbst zu schreiben, gekommen sein. Denn dieses Buch über seinen Vater, den Rabbi, ist keineswegs sein erstes. Drei Romane und ein Band mit Erzählungen sind von ihm bereits erschienen — aber noch nicht bis zu uns gelangt. Wer dieses Buch gelesen hat, der wird wohl auch noch nach anderen Büchern Singers suchen.

MEIN VATER DER RABBI. Von Isaac Bashevis Singer. Deutsch von Otto F. Best. Rowohlt Verlag. 314 Seiten.

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