Schon der ganze Isaac B. Singer

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Ein Frühwerk aus dem Nachlaß läßt bereits Erzählkunst und Beobachtungsgabe des späteren Nobelpreisträgers erkennen.

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Ein Frühwerk aus dem Nachlaß läßt bereits Erzählkunst und Beobachtungsgabe des späteren Nobelpreisträgers erkennen.

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Isaac Bashevis Singer, der letzte große Autor der jiddischen Literatur, hat in vielen Erzählungen und in seinen Romanen das Leben der Ostjuden in Schtetl und Ghetto und den Überlebenskampf der emigrierten Juden in Amerika authentisch nacherzählt. Auch im vorliegenden - aus dem Nachlaß edierten und übersetzten - Roman, in dem er die Verwirrungen eines jungen Mannes schildert, der ohne einen Groschen Geld in Warschau festsitzt und auf sein Ausreisevisum nach Israel wartet, obwohl er gar nicht weiß, was er dort machen soll, erweckt er diese verharmlosend als "versunkene", tatsächlich gewaltsam versenkte Welt der Ostjuden in der Zwischenkriegszeit zum Leben.

Der Roman hat stark autobiographische Züge und nimmt alle großen Themen vorweg, die Singer ein Leben lang beschäftigt haben: Die Liebe und ihre wundersamen Verirrungen, die Frauen und ihre (Un)treue, die Suche vieler Juden nach religiöser Orientierung inmitten von Verfolgung und politischen Umbrüchen, das Ringen um die eigene Identität als Schriftsteller und der nackte Kampf ums physische und psychische Überleben in einer Zeit brutalster Progrome.

Der neunzehnjährige David kommt nach Warschau, ohne Ausbildung und ohne Familie, einen Essay über "Spinoza und die Kabbala" in der Tasche, und versucht, von einem Tag zum nächsten zu überleben. Ohne Geld und ohne geistige Orientierung - er schwankt zwischen den Lehren seines Rabbiner-Vaters und der aufgeklärten Philosophie - ist das nur möglich, weil er von mildtätigen Damen am Leben erhalten wird. Immer dann, wenn er ernsthaft überlegt, seinem Leben ein Ende zu setzen, erlösen sie ihn mit einer warmen Mahlzeit oder einem Bett für einige Nächte. Hungrig und verlottert, träumt er von seiner ersten Liebe im kleinen galizischen Heimatort und von einer großen Zukunft: "Ohne studieren zu müssen, würde ich eine Entdeckung nach der anderen machen, vergessene Sprachen sprechen ... zum Mond oder zum Mars fliegen und dort einen Judenstaat gründen. Ich würde König der Erde, des ganzen Sonnensystems werden und in einem Luftschloß wohnen, zusammen mit meinen achtzehn Ehefrauen, in allen Teilen der Welt ausgewählten Schönheiten. Und Lena würde meine Königin sein."

Überall fühlt er sich fehl am Platz, als Beobachter, aber nicht wirklich als Beteiligter. "Mir wäre nicht so bange gewesen, hätte ich nicht so gut in Gesichtern lesen können: Spott, Unverständnis, Geringschätzung, Habsucht." Mit der kleinen Angestellten in einem Damenwäschegeschäft teilt er das Bett, wenn die Dienstgeber ausgehen, bei zwei kommunistischen Revolutionärinnen findet er eine fensterlose Unterkunft, und für sein Visum nach Israel geht er eine Scheinehe mit einer verarmten Advokatentochter ein, die zu ihrem Bräutigam nach Israel will. Immer mehr verheddert er sich in Affären, in politische Überlegungen und in Betrachtungen seines eigenen Seelenlebens. "Den Emotionen, so sagte ich mir, wohnt mehr Realität inne als den adäquaten Ideen, als die Spinoza die Mathematik und die Logik bezeichnet", und doch wünscht er sich eine Idee, "mittels deren man Gefühle vertreiben kann."

Staunend beobachtet der Heranwachsende Rabbis, "die nicht warten wollen bis der Messias auf einem Esel angeritten käme" und zu allen möglichen Zionistenkongressen reisen und Beziehungen zu Engländern und zum Völkerbund unterhalten. Sein Vater wiederum, ein strenggläubiger Jude, weigert sich, die sich wandelnde Welt rund um sie wahrzunehmen. Er studiert die heiligen Schriften und glaubt, daß in der Fortführung der Tradition das Heil der Juden begründet liegt. Davids Bruder kommt aus der Sowjetunion zurück und erzählt vom "marxistischen Rabbinat" von Marx und Lenin und dem Eifer mancher Juden, die nun nicht mehr die Tora, sondern die Schriften ihrer "Rabbis" Lenin, Trotzki, Dserschinski, Bucharin, Rykow, Kamenew ... zitieren. Und er berichtet: "Ein jüdischer Tschekist ist genauso schlimm wie ein ukrainischer Rowdy. Juden wurden vor ein Exekutionskommando gezerrt, weil sie Gebetsriemen angelegt hatten." Doch was soll der junge David in Israel, wo es "mehr Schriftsteller als Staatsbürger gibt", wo er sich doch für manuelle Arbeit überhaupt nicht eignet?

Bereits in diesem nicht mehr genau datierbaren, jedenfalls aber frühen Roman Isaac B. Singers gibt es jene wunderbaren Beobachtungen, für die er später weltberühmt und 1978 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Wenn er den Schriftstellerklub beschreibt, wo gerade zu Mittag gegessen wird, "das Klirren von Geschirr war zu hören, Kellnerinnen trugen Tabletts. Bärte wippten, Nudeln hingen daran. Glatzen glänzten, Brillen glitzerten", so liegt der ständige Hunger nach Essen, nach Anerkennung, nach Dazugehören in diesen knappen Worten.

Die Weisheit des alten Advokaten, der ihn lehrt: "Wer nicht hinüberklettern kann, muß unten durchkriechen", wird bald zu seinem Lebensmotto. Zu den Leitmotiven gehören auch immer wieder die Frauen, die ihn zwar necken, er sei noch ein Kind, das sich mit Bücherkram vollstopfe und glaube, heilige Nudeln zu essen, und deren Untreue ihn - den selbst ständig Untreuen - arg beunruhigt. Die Revolutionärin, die Operetten und ausgefallene Kleider über alles liebt, vertreibt sich mit ihm die Wartezeit auf ihren in Rußland verschollenen Revolutionär, "weil sie Blut und nicht Sauermilch in den Adern hat", unter dem Traubaldachin beginnt ihm seine Schein-Ehefrau zunehmend zu gefallen und doch denkt er sehnsüchtig an seine einzige große - weil unerreichbare - Liebe Lena.

Im Gegensatz zu späteren Romanen wie "Meschugge" und Erzählungen, in denen die Traurigkeit und Bitterkeit angesichts von Verfolgung und Exil ganz stark durchklingen, zeichnet sich dieser frühe Roman durch jugendliches Staunen, Leichtigkeit und Offenheit inmitten einer armseligen, bedrohten und undurchschaubaren Welt aus.

Die trübsten Gedanken verfliegen, wenn das Geld für ein Bejgel und Kaffee reicht oder die Aussicht auf eine Liebesnacht besteht. Auch die Hoffnung, in einer kleinen Zeitung einen Beitrag zu veröffentlichen, trägt ihn durch drei hungrige Tage. Noch ist der Schelm stärker in ihm und sein Leben noch nicht mit dem Holocaust belastet. Daß trotzdem schon soviel Lebensweisheit in diesem Roman liegt, bestätigt die außergewöhnliche Erzählkunst Isaac B. Singers, der schon in diesem Werk "die Alltagswirklichkeit widerspiegelt und andererseits geprägt ist vom Wissen um die Mächte, von denen die Welt beherrscht wird."

Das Visum Roman von Isaac Bashevis Singer, Übersetzung: Gertrud Baruch, Hanser Verlag, München 1998, 272 Seiten, geb., öS 263,-

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