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Zeugnis einer verschwundenen Kultur

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JOSCHE. Ein jiddischer Roman von I. J. Slnitr. Deutsch von Jan Müller. Herder- Verlag:, Freiburg/Br.-Basel-Wien, 1987. 253 Selten. DM 19.30.

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JOSCHE. Ein jiddischer Roman von I. J. Slnitr. Deutsch von Jan Müller. Herder- Verlag:, Freiburg/Br.-Basel-Wien, 1987. 253 Selten. DM 19.30.

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Wer hierzulande etwas über den Chassidismus weiß, hat seine Kenntnisse meistens bei Martin Buber geschöpft, der viele ergreifende Legenden über chassidische Heilige erzählt hat und einmal sagte, diese ostjüdische mystische Bewegung wolle den Menschen „ausrüsten, aus der

Kraft des Geheimnisses zu leben, ihm den Weg weisen, auf dem ihm Gott begegnet“.

Von Verfallserscheinungen des Chassidismus ist kaum etwas bei uns bekannt geworden; daß nämlich im Laufe der Zeit aus den gottnahen chassidischen Zaddikim — Zaddik bedeutet der Gerechte, auch der Heilige — geschäftstüchtige Wunderrabbis wurden, die, wie Saida Landmann das formuliert, „den ,Thron ihres Vorfahrs ohne Berufung erbten. Sie hielten regelrecht Hof, nahmen von ihren reichen Anhängern hohe Geldgeschenke entgegen, lebten nicht mehr in Armut, wie die ersten chassidischen Rabbis, sondern in Luxus, und es war für Unbemittelte gar nicht leicht, bis zum Zaddik vorzustoßen. Als Ersatz für den persönlichen Kontakt gab es — natürlich gegen Geld — Amulette und Zettel, die vom Rabbi geschrieben oder gesegnet waren. Mit anderen Worten: Ablaßwirtschaft...“

Der Hof eines solchen späten Zaddik, der des Wunderrabbi von Nieschawe in Galizien, bildet den Hintergrund für eine wahre Geschichte, die sich in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg ereignete, und die der heute in den USA lebende ost- jüdische Emigrant I. J. Singer, Sproß einer polnischen Rabbiner- Dynastie, in seinem Roman „Josche“ wieder aufgreift. Eine abenteuerliche Geschichte, in der der Autor, der ein wahrhaft hinreißender Erzähler ist, noch einmal die vom Nationalsozialismus ausgerottete uralte Kultur des Ostjudentums in wunderbar kraftvollen Bildern heraufbeschwört.

Dies sind die äußeren Geschehnisse: Nachum, das einzige, blutjunge, verwöhnte Söhnchen des Rabbis von Rachmanivka, heiratet die jüngste Tochter des Zaddik von Nieschawe. Der fromme Talmudschüler sieht sich im Hause seines Schwiegervaters unvorhergesehenen Versuchungen ausgesetzt, entbrennt in leidenschaftlicher Liebe zu seiner schönen und raffinierten Schwiegermutter, verläßt schließlich die Stätte seiner Schuld und wandert als armer Bettler „Josche Kalb“ in die Welt. Wieder wird ihm in diesem Leben der Sühne und Demut eine Frau zum Verhängnis, eine Schwachsinnige, die er schließlich heiratet, weil man sie verdächtigt, ein Kind von ihm zu erwarten und damit eine Epidemie verschuldet zu haben, die die Jugend der Stadt dahinrafft.

Die Hochzeit des seltsamen Gespanns wird von der ganzen Stadt auf dem Friedhof gefeiert, um, nach einem einheimischen Brauch, den Tod durch • das heitere Treiben zwischen den Gräbern zu besänftigen.

Gleich nach der Hochzeit verschwindet Josche Kalb, alias Nachum, wiederum, er kehrt auf Umwegen an den Hof seines ersten

Schwiegervaters zurück, wird dort von Leuten, die sein zweites Leben kennen, aufgespürt, schließlich, nachdem auch die k. u. k. Behörden sich in die hintergründigen Geschehnisse einmischten, vor ein jüdisches Gericht gestellt und wegen Bigamie angeklagt. Nach seinem Prozeß verschwindet der Angeklagte wieder, diesmal endgültig. Lebendig bleibt er bei den Anhängern des Chassidismus, die er in zwei Lager spaltet, von denen die eine Gruppe Josche- Nachum für einen großen Sünder hält, die andere sieht in ihm einen heiligen Wunderrabbi, den sie zum Nachfolger des Zaddik von Nieschawe machen will, um dessen Erbe die Nachkommen wilde Machtkämpfe führen.

Hinter diesen dramatischen äußeren Geschehnissen wird eine andere Welt offenbar, die ihre Wurzeln im Überirdischen hat, eine Welt mystischer Frömmigkeit und alter ostjüdischer Traditionen, die durch den Nationalsozialismus ein jähes Ende fand. Singers Roman hat in jiddischer und englischer Sprache schon viele Auflagen erlebt, und wir dürfen uns freuen, daß dieses unschätzbare historische Dokument einer unwiederbringlich dahingeschwundenen Kultur nun auch in deutscher Sprache vorliegt.

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