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Das Bild mit den Korallen

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Das Korbstühlchen quietscht. Die Mutter sagt:

„Sitz still.“

„Lassen Sie sie doch“, sagt der Maler, „sie kann tun und lassen, was sie will.“

Das Kind staunt und sitzt still. Es sieht den Maler an. Er ist bleich und schwarz. Wo hat er die Badehose mit den Korallen?

„Im Sommer, am Meer, trägt er eine Badehose mit einem Gürtel aus Korallen“, hat die Mutter erzählt, „einen ganzen Gürtel aus Korallen. Der Maler haust da irgendwo am Meer. Er ist ein bißchen verrückt.“

Das Kind sieht ihn an. Ist er ein bißchen verrückt? Das Kind kann ihn leiden.

Es fragt: „Wo hast du die Badehose? Die mit den roten Korallen?“

Die Mutter legt den Finger auf den Mund, macht große Augen,

schüttelt stumm beschwörend den Kopf.

Der Maler sagt:

„Zu Hause.“

Das Kind fragt:

„Wo ist das?“

Der Maler hebt die Schultern. Er mischt zwei Farben und sieht das Kind ernsthaft an. Es gibt den Blick zurück und wiederholt:

„Wo ist das?“

Der Maler sagt:

„Am Meer. Ich hab die Korallen selbst getaucht. Willst du welche haben?“

Das Kind nickt.

Die Mutter beugt sich vor.

„Sind die Augen so grau? Sind sie nicht ein bißchen mehr grün?“

Der Maler sagt:

„Nein, heute sind sie ganz grau.“ Das Kind lächelt.

Es geht noch nicht zur Schule, aber es weiß: wenn es böse und widerspenstig ist, werden die Augen grün. Hedwig, das Kinder - niädchen, hat es gesagt.

Heute sind sie ganz grau.

Der Maler hat das blaue Häkelkleid schon fertig. Er mischt ein dünnes Rot für den Hintergrund. Er läßt viel Wasser mit dem Rot laufen. Das Kind sieht es, weil es ganz aufrecht sitzt.

Die Mutter sagt:

„Was für ein Hintergrund. Er sieht so unsicher aus.“

Der Maler sagt:

„Unsicher — ja, natürlich.“

Das Kind fragt:

„Bist du ein bißchen verrückt?“

Die Mutter erstarrt. Sie steht auf und geht schnell aus dem Zimmer. Das Zimmer verliert an Sicherheit, als die Mutter gegangen ist. Das Kind sieht sich um. Es fühlt sich verloren. Gleichzeitig fühlt es sich wachsen. Das steigt wie ein Triumph in ihm auf.

Es sitzt ganz still, die Hände rechts und links auf den Armlehnen des Korbstühlchens.

Die Hände werden kalt, der Hals wird eng. Das Kind denkt: gleich ist das Bild fertig. Gleich ist alles zu Ende.

Der Maler und das Kind sehen sich an.

Er sagt:

„Ich bin fertig. Willst du es sehen?“

Das Kind nickt. Es steht auf und sieht sich an. Es sieht den Maler an, gibt ihm die Hand, macht einen Knicks. Es sagt:

„Vergiß die Korallen nicht.“

Der Maler lächelt:

„Ich vergesse sie bestimmt nicht. Ich bringe sie dir.“

Das Kind fragt:

„Ist es schön, wo du zu Hause bist?“

Der Maler nickt.

Ein paar Wochen später, das Bild hängt in einem Goldrahmen im Wohnzimmer, kommt die Nachricht, daß der Maler ertrun- kąp sei. Im Mittelmeer. Beim Korallentauchen.

Eins, zwei, drei, vier Jahrzehnte. Sie sind so schnell vergangen, wie man sie aufzählt.

Die Frau geht durch die Stadt, seit vielen Jahren zum ersten Mal. Sie geht nur so durch die Straßen, ohne Richtung und Ziel.

Vorgefaßte Richtungen sind wie vorgefaßte Meinungen.

Es ergibt sich von selbst, daß sie in eine Gegend kommt, die sie gut kennt.

Als sie an dem Trödlerladen vorbeikommt, bleibt sie stehen, sieht durch die Fensterscheibe und sagt:

„Nein -“

Sie dreht sich um, bleibt eine Weile stehen, dreht sich wieder um, sagt nicht mehr nein.

Es ist ein Trödlerladen wie viele andere. Die Venus von Milo und Leda mit dem Schwan, Kupferstiche und Barockengel, Kommoden, Uhren, Gläser, Gemälde, Leuchter, Messing, Silber und Zinn.

Auf einem Stuhl steht ein Bild.

Das Korbstühlchen ist ganz still. Das Kind ist ganz still.

Die Hände liegen rechts und links auf den Armlehnen. Das blaue Häkelkleidchen, mit dem die Mutter sich so viel Mühe gegeben hat, ist verblaßt. Die weißen Blenden an den Ärmeln sind weiß geblieben.

Die Frau sieht das Kind an. Wie ernst es ist.

Wenn sie nicht wüßte, daß es heimlich gelächelt hat. Innen.

War das Haar so dick? Die Augen so grau?

Der Mund — ?

Warum trägt das Kind eine Korallenschnur um den Hals? Es hat diese Kette nicht getragen damals. Die Frau’weiß es. Sie preßt das Gesicht an die Scheibe.

Aus dem Dunkel des Ladens nähert sich ein kleiner Mann. Er lächelt verbindlich, tritt neben das Bild. Er starrt es an, stürzt zur Tür, reißt sie auf. Er schreit:

„Das ist der Gipfel! Der Gipfel ist das!“

Er rennt auf die Straße, schreit die Frau an:

„Verschwinden Sie! Verschwinden Sie auf der Stelle! Mein Bild! Polizei! Ich bin ruiniert, glatt ruiniert!“

Er rennt in den Laden zurück.

Die Frau sieht das Bild an. Auf dem Stuhl steht der goldene Rahmen mit dem leeren Papier. Die letzte Spur des ungewissen Hintergrundes läuft in dünnem Rot in die linke untere Ecke.

Die Frau dreht sich um und geht.

Sie spürt nichts von den Tränen, die noch immer über ihr Gesicht laufen.

Die Passanten sehen ihr verwundert nach.

Seitdem weiß sie, daß man die Stätten, an denen man einmal glücklich war, nicht wieder auf suchen soll. Was man wiederfindet, verliert man für immer.

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