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Das Geschaft mit dem Urlaub

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Explosiv hat sich im letzten Jahrzehnt der Massentourismus und mit ihm die Touristikbranche entwickelt. Da kann es nicht überraschen, daß bei einem derart stürmischen Aufschwung sich auch Mißstände breitmachten und Pannen vorkamen — Pannen in der persönlichen Planung des Urlaubers ebenso wie in der der Reisebüros und Großunternehmen. Die Verlagsbranche schaltete daraufhin, sie erkannte Urlaubsberatung als eine Lücke auf dem Ruchmarkt, die es zu schließen galt. „Der richtige Urlaub“ nannte sich im Herbst vorigen Jahres ein im Residenz-Verlag Salzburg erschienenes Buch. „Ein Handbuch für Ferienplanung“ lautet der Untertitel eines Buches, das im Frühjahr im Molden-Verlag Wien herauskommt, aber es heißt doch wohl das Kind imit dem Bade ausschütten, wenn in der Verlagswerbung für dieses Buch behauptet wird, daß 1971 etwa ein Viertel aller Pauschalreisenden Opfer unseriöser Praktiken mancher Touristikunternehmen wurden. So erscheint genau im rechten Augenblick bei Hoffmann und Campe Hamburg ein Buch von Curt Riess mit dem anlockenden halb ernst, halb ironisch gemeinten Titel „Jedes Jahr ins Paradies“.

Curt Riess zeigt in einer historischen Darstellung auf, wie es zu der heutigen Situation gekommen ist, wie sich der Tourismus seit 1872 von Jules Verne fiktiver, nur im Roman vorgenommenen „Reise um die Welt in 80 Tagen“ bis zur heutigen Flugtouristik entwickelte: mit dem bundesdeutschen Versandhauskönig Josef Neckermann als dem größten Flugreisenveranstalter der Welt. Auf diesem Entwicklungsweg gibt es vie-

Curt Riess, einer der bekanntesten Journalisten Europas und Amerikas, geboren 1902 in Würzburg, Verfasser des hier besprochenen Buches, Autor eines bekannten Buches über Goebbels, das 1948 erschien, lebt heute in der Schweiz.le interessante Menschen und Gegenstände, mit denen der Autor sich eingehend beschäftigt.

Da ist in der Mitte des 19. Jahrhunderts Karl Baedeker mit seiner Idee von Reiseführern: der auf praktische Brauchbarkeit erpichte Genauigkeitsfanatiker, der sechs Monate im Jahr herumreist, von Stadt zu Stadt, von Hotel zu Hotel, und diese Idee verwirklicht — Land für Land, parallel mit den Fortschritten des Eisenbahnbaues; die Idee setzt sich durch, und vor dem zweiten Weltkrieg werden im Leipziger Verlags-haius jährlich zwei Millionen Exemplare „Baedecker“ umgesetzt. Da ist zur gleichen Zeit in England Thomas Cook, der Abstinenzler, der auf den Gedanken kommt, alkoholgefährdete Seelen mittels gemeinsamer Reisen zu retten, der mit den Eisenbahngesellschaften die Einräumung eines Rabbats für Gruppenreisen aushandelt und angeregt durch Jules Vernes Romanerfolg 1872 die erste Weltreise organisiert. Schließlich wurde er zum größten Reiseunternehmer der Welt, nicht zuletzt durch die revolutionäre Erfindung des Hotelgutscheins.

Da ist die American Express Company mit ihrer ebenfalls mehr als hundertjährigen Geschichte, die den traveller cheque, den Reisescheck, einführte, und da ist die Geschichte der am 4. Dezember 1876 gegründeten Compagnie Internationale des Wagons-lits et du Tourisme, die sich im Zeitalter der Flugtouristik angesichts der rückläufigen Etwicklung des Schlafwagengeschäftes zusätzliche Geschäftsobjekte wie den Bau von Hoteldörfern gesucht hat.

Da ist vor dem Krieg in Deutschland die Welt der Bildungsreisen von Dr. Tigges ebenso wie Kraft durch Freude und in Italien Dopolavoro, und da ist nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland die Entwicklung vom absoluten Nullpunkt bis zum gigantischen Unternehmen der Touristik Union International, abgekürzt TUI, entstanden aus dem Zusammenschluß der Firmen Touropa, Scharnow, Hummel und Dr. Tigges, die durch Neckermann rasant entwickelte Flugtouristik und der Einstieg der Waren- und Versandhäuser ins Reisegeschäft. Mit Neckermann, Kaufhof, Karstadt, Quelle sind nun plötzlich Großunternehmen da, die den Vertrieb selbst in die Hand nehmen — zum erstenmal ohne die klassische Institution der Reisebüros.

Und da finden sich noch viele andere Themen wie beispielsweise die Geschichte des Clubs Mediterranee, die Geschichte der Schweizer Reise-.unternehmea Hotelplan,. Danaas-und Kuoni, die Organisation von Reisen für Rentner ebenso wie für junge Menschen, der Tourismus hinter dem Vorhang, die neuen Ferienziele in einer veränderten Welt, die nicht zuletzt durch den Massentourismus ihre Schönheit einbüßt. Und auch ein Kapitel Pannen fehlt nicht. &

Curt Riess hat mit journalistischem Gespür für das charakteristische Detail ein Sachbuch geschrieben. Sein Thema ist, wie der Untertitel besagt, das Geschäft mit dem Urlaub — in historischer Darstellung. Die gekonnte Art, in der der Stoff aus hundert Jahren serviert wird, die leicht eingängige Darstellung, die geschickte Anreicherung mit Anekdoten — das alles sollte nicht vergessen lassen, daß in diesem Buch ein gewaltiges Stück Arbeit steckt. Die einschlägige Literatur und das Archivmaterial der Firmen mußten ebenso verarbeitet werden wie Hunderte von Gesprächen mit allen am Tourismus Beteiligten — Gespräche, die nicht nur zur Information, sondern auch zur Farbigkeit der Schilderung beigetragen haben. So ist mehr als eine Geschichte des Tourismus entstanden, nämlich ein Stück weltweiter Kultur- und Sozialgeschichte im Spiegel sich ständig wandelnder Reisesitten.

JEDES JAHR INS PARADIES. DAS GESCHÄFT MIT DEM URLAUB. Von Curt Riess. Hoffmann und Campe, Hamburg 1973. 420 Seiten, Leinen, DM 29.50.

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