6998347-1987_16_19.jpg
Digital In Arbeit

Das Herz des Vogels

Werbung
Werbung
Werbung

Das waren Märztage, man sagt, die kältesten seit mehr als hundert Jahren. Ging das Vogelfutter zur Neige auf der Terrasse über dem südlich gelegenen Teil des Gartens, der noch tief im Schnee lag, so saßen die Vögel nahe dem Boden in den Zweigen des Weißdorn, warteten, und nur einzelne, meist Spatzen, hüpften über die vom Schnee freigekehrten Steinplatten, um die Reste der Hanf- und Sonnenblumenkerne aus den Fugen zu holen. Später, am Mittag und in der ersten Hälfte des Nachmittags, schien die Sonne schon kräftig, ein Hoffnungsschimmer, auch für die Vögel; Amseln probierten leise erste

Ansätze ihres Gesangs im schwarzen Kirschbaum, und Spatzen schilpten im Liguster.

Dann kam der Tag, an dem man merkte, daß schon Schnee geschmolzen war, unmerkbar unter der Oberfläche, wo er mit der Erde sich berührte. Die Spatzen und die Schwärme von Grünlingen wurden lebhafter, holten sich das Futter lieber vom Boden, nur Meisen schlüpften vereinzelt ins Futterhäuschen, und hin und wieder sah ich das Rotkehlchen, das Reste von ausgeschälten Kernen auf pickte; von dem Tag an streute ich Haferflocken.

An jedem Nachmittag, sobald die Sonne sich neigte, dachte man: morgen sei es vielleicht noch wärmer. Ich beobachtete das Thermometer; es schwankte. Irgend jemand hörte ich sagen: Regen würde nicht schaden, der aufräumte mit dem Schnee. Ich dachte, daß die Sonne dann verschwinde, der Regen die Landschaft grau in grau verwandeln würde, und nahm in Kauf, daß der Frühling langsamer komme.

Und nun kommt er langsam. Nur die Weidenkätzchen stehen prall auf den Ästen. Immer lauter werden die Vögel, bewegter ihr An- und Abflug, ich höre durch die große Glasscheibe der Terrassentür das Schwirren, wenn ich unachtsam hintrete und sie verscheuche. Dann sind mit einem Schlag die Steinplatten leergefegt. Bis sie es an einem Nachmittag nicht mehr sind.

Noch während der Schwarm auffliegt, Bewegung vom Boden in die Luft übergeht, haftet mein Blick auf dem Bewegungslosen und macht mich betroffen: ein Grünling ist nicht aufgeflogen. Ich starre ihn an, kann lange hin sehen, er beachtet mich nicht, achtet auf nichts in seiner Umgebung, den Kopf nach hinten gedreht und im grünlichen Gefieder. Ungewöhnlich wenn ein Vogel so dasitzt, ungedeckt sich darbietet, lebensgefährlich, denn der Sperber überfliegt ab und zu die Futterstellen. Weiter überlege ich: er würde unterkühlen, das Bedürfnis der notwendigen Bewegung, nötig, um den Kreislauf im Verhältnis zur Außentemperatur in Gang zu halten, sei nicht mehr vorhanden, der Drang zu überleben geschwächt. Er sitzt am Rande der oberen Betonstufe. Ich warte. Er rührt sich, plustet das Gefieder, es glättet sich wieder, der Kopf wird sichtbar, tritt aber nicht hervor, nur Schnabel und Augen sind bemerkbar, dann schwankt der kleine Körper, der Kopf verschwindet im Gefieder.

Ich möchte hinausgehen. Die Stelle, an der er sitzt, liegt in der Sonne, das Gefieder nimmt die Wärme auf, denke ich weiter, sie tue ihm gut. Ich gehe nicht hinaus, blicke angespannt auf den Vogel, der seine Stellung gering verändert, das Gefieder sträubt und glättet, schwankt und, als verliere er das Gleichgewicht, zur Seite trippelt.

Warum ich nicht eingreife? Die Erfahrung aus der Kindheit hält mich zurück; als wir im Winter den Meisen Fallen stellten, um sie lebend zu fangen, sagte man uns: man dürfe sie nicht von der Kälte in die warme Stube bringen. Ich schäme mich, dazustehen und dem Ende des Vogels zuzuschauen, denn es ist mir klar, daß es kommen wird, bin wie gelähmt, habe einen Funken Hoffnung, wenn der Kopf aus dem Gefieder kommt, der Körper sich ein wenig strafft, vielleicht der Schwarm ihn dazu anregt, der um ihn herum ist, aufschwirrt und wieder einfällt. Dann gehe ich in einen anderen Raum, habe aber nicht die Ruhe mich hinzusetzen, gehe zurück, zögere vor der Glastür, trete vorsichtig näher.

Der Schwarm schwirrt auf. Der Grünling hat seine Lage verändert, ist von der Betonstufe’ auf die vom Schnee entblößte Erde und den Abhang hinuntergerutscht, hält sich nicht mehr auf den Beinen, liegt auf der Seite, die Flügel zucken.

Ich schaue das nicht mehr mit an, stoße langsam die Glastür auf,

der im Weißdorn am Rande der Terrasse sitzende Schwarm fliegt hoch, langsam bücke ich mich, der Vogel nimmt mich nicht mehr wahr, ich hebe ihn auf; der Eindruck ist immer neu, auch wenn er sich im Gartenjahr wiederholt: ein Stück Leben, leicht, in sanftes, weiches Gefieder gebettet. In meiner Hand spüre ich keinerlei Gegenreaktion; die Augenlider sind halb geschlossen, der Kopf ist zur Seite gefallen. So stehe ich unschlüssig, meine Hand leicht um den gewichtslosen Körper, da spüre ich ganz plötzlich die starken Herzschläge (später weiß ich,

däjTes vier starke Schläge waren), ein Aufbäumen oder die verstärkten Reflexbewegungen des Muskels, ein Erinnern an den Rhythmus des Lebens, das nach dem letzten Schlag stillsteht.

Ich bin betroffen. Der Körper liegt ganz ruhig’in meiner Hand, die ich während der Schläge immer weiter vor mich hinstreckte "und öffnete, als könnte ich den Herzschlägen mit der Bewegung entgegenkommen. Augenblickslang erstarrte ich unter den Herzschlägen in dem Bewußtsein, den Rhythmus des Kosmos zu fühlen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung