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Deeskalierung bei Onkel Sam

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Den älteren Lebensstil, zu dem ich mich bekenne und den. ich zum Großteil unterschreibe, könnte man den historischen amerikanischen Stil nennen, weil er auf den Erfahrungen unserer Bürger seit den Tagen der Pilgerväter beruht. Er hat fünf charakteristische Merkmale: er fußt auf dem Gottesglauben, wie ihn puritanische Ethik verkündende Kirchengemeinschaften predigen. Er ist patriotisch und hegt seit jeher große Hochachtung für das Militär. Er ist der Überzeugung, daß ehrliche Arbeit gut für den Menschen ist und predigt Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber. Er glaubt an die Unverletzlichkeit des Heims, an Respekt gegenüber den Alten, soweit sie nicht durch zu hohes Alter zur Last werden, und an Monogamie. Schließlich bekennt er sich zum Konservativismus in Kleidung, Sprache, Musik und in den Accessoires.

Mindestens neunzig Prozent aller Amerikaner unterschreiben diesen Lebensstil und halten ihn für flexibel genug, daß er jedem zusagt, der willens ist, ihn auf faire Weise auszuprobieren. Er kann durch eine Reihe von Aphorismen zusammengefaßt werden, die die meisten von uns unterschreiben, etwa „wenn jemand arbeitet, kommt er auch vorwärts“. „Amerika hat stets versucht, das Rechte zu tun.“ „Rom ist nicht an einem Tag erbaut worden.“ „Die Stärke ; dieses Landes beruht auf dem Heim.“ „Wer eine gute Schulbildung genossen hat, kann alles erreichen.“ „Gott wacht.“

Der neue Lebensstil lehnt fast jede der erwähnten Regeln ab und beleidigt dadurch alles, was älteren Menschen heilig ist. Aber das ist nich das Wesentliche daran. Ausgehenc von einer positiven, ja sogar überaus optimistischen Lebenseinstellung predigt der neue Stil Liebe, Freiheit gegenseitige Abhängigkeit, persön liehe Verantwortung und eine radi kale neue Interpretation der Gesell schaft. Die Ansichten, die traditio neilerweise die Gesellschaft in Gani hielten, werden nicht mehr respek tiert, und die Ziele, die dem einzel nen gestatteten, innerhalb der Ge Seilschaft zu agieren, werden negiert.

.Im Detail lehnt der neue Lebens stil die puritanische Ethik als archa isch und destruktiv ab. Sparen, Rücklagen für Notzeiten, Angst vor der Meinung des Nachbarn und all die anderen Gespenster, die für unser Wohlverhalten bemüht wurden, werden als lächerliche Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit angesehen. Gott wird mitunter mehr verehrt als in der formellen Religion und Religion gewinnt eine tiefere persönliche Bedeutung.

Die Anhänger des neuen Stils sind keineswegs Atheisten, doch sind die Religionen, die ihnen zusagen, häufig die alten Religionen des Ostens. Das Christentum wird nicht mehr als allein seligmachender Glaube angesehen, dennoch fühlen sich viele Vertreter des neuen Stils in katholischen, protestantischen oder jüdischen Glaubensgemeinschaften geborgen, solange der Priester nicht versucht, ihnen das alte Zaumzeug der Religion anzulegen. Papst Johannes XXIII. ist für die neue Gruppe ein Held.

Der neue Lebensstil hat keinen Platz für Patriotismus im alten Sinn und statt Hochachtung nur Verachtung für das Militär. Es sind das die direkten Konsequenzen des Vietnamkrieges und der Wehrdienstpflicht, die zu seiner Führung nötig war. Eine Generation junger Männer mußte sich mit einem der verworrensten Einberufungssysteme, die je einer Demokratie eingefallen sind, herumschlagen und sie entwickelten dagegen und gegen alles, was damit zusammenhing, Haßgefühle. Wenn ihnen ein älterer Mann erzählen will, daß er in Deutschland und im Südpazifik für die Erhaltung des amerikanischen Lebensstils gekämpft hat, langweilt sie das nur.

Symbole des Patriotismus, wie Fahnen und Marschmusik, lehnen sie ungeduldig ab sofern sie Philosophen sind, verachtungsvoll, wenn sie Aktivisten, und gewalttätig, wenn sie Revolutionäre sind. Würde Amerika durch eine Invasion bedroht, würde sich eine riesige Zahl der New-Style-Leute freiwillig melden, um es zu verteidigen, aber in Vietnam in einem Krieg ohne Kriegserklärung und für ungewisse Prinzipien zu kämpfen, ist ihnen zuwider und fordert ihre Opposition heraus.

Alle, die dem neuen Lebensstil anhängen, haben große Achtung vor der Arbeit, aber nur vor Arbeit, die sie bewußt selbst beginnen und deren Wert ihnen einleuchtet. So findet man Frauen, die daheim nach alter Weise Brot backen, und Männer, die ihre Möbel selbst machen. Der Landwirtschaft wird besondere Hochachtung gezollt, und handwerkliche Tätigkeit, wie Tischlerei, Elektrikerarbeiten und Autoreparatur gelten geradezu als Kunst. Aber der Job von neun bis fünf, und vor allem der Leistungswettbewerb wird mit Verachtung angesehen. Je ursprünglicher die Arbeit, desto besser. Viele junge Männer mit langen Haaren arbeiten unerhört schwer als Packer, Lastwagenchauffeure, Taglöhner und Krankenwärter. Was sie ablehnen, ist der respektable Bürojob, den ihre Väter so sehr anstrebten. Den Stolz auf die Zugehörigkeit zu einem Großunternehmen gibt es unter den Anhängern des neuen Stils nicht mehr und er verschwindet auch un- ! ter den Vertretern des alten.

Familienprobleme werden von den New-Style-Leuten endlos diskutiert. : Viele von ihnen, vor allem Mädchen, lehnen die traditionelle Ehe als Le-bensform ab und akzeptieren sie erst, wenn sie mehr als dreißig sind i und mit diversen jungen Männern gelebt haben. Kinder werden mit ebenso großer Liebe behandelt wie die unvermeidlichen Haustiere, die man in den New-Style-Gruppen findet. Über Keuschheit wird nicht ge-' sprochen und Jungfräulichkeit ist ein zeitlich begrenztes Übel.

Liebe, die Fähigkeit, mit anderen menschlichen Wesen auszukommen und die Bereitschaft, ihnen gegenüber Konzessionen zu machen, ist eines der noblen Ideale der neuen Gruppe, und wenn es nach langer Assoziation in der freien und leichtlebigen Welt des neuen Lebensstils zu Eheschließungen kommt, sind die Ehen zumeist gut und fundiert.

Sex ist unwichtig, weil er nicht länger Neurosencharakter hat und daher kein Gegenstand für endlose Diskussionen mehr ist. Wer sich von einer Person des anderen Geschlechts angezogen fühlt, soll etwas tun, seinen Organismus entlasten und danach sehen, welche bleibenden Werte daraus resultieren.

Es ist die sichtbare Manifestierung in Kleidung, Redeweise und Accessoires, die die neue Lebensweise bei älteren Menschen so verhaßt macht. Die Männer haben lange Haare — je zottiger, desto besser — und die Mädchen tragen keine Büstenhalter. Bevorzugt wird die Aufmachung des 19., ja sogar des 18. Jahrhunderts mit stahlumrandeten Brillen, Zöpfen bei Männern und knöchellangen Kleidern für Mädchen. Schuhe werden womöglich ausgezogen, und Adrettheit ist keine Tugend. Man-:he New-style-Leute sind peinlich aui personucne 0 andere wieder sind unglaublich schlampig. Diese Generation ist jedenfalls bemerkenswerter als jede andere: wenn sie gruppenweise in der Innenstadt herumflanieren, ärgern sie die Bürger, denen sie wie die Inkarnation der Revolution erscheinen. In einem gewissen Sinn sind sie das auch.

Das bringt mich zu der Überzeugung, daß eine schnelle Deeskalie-rung der Grundsätze zwischen den beiden Lebensstilen am Platz ist, und ich möchte hiefür folgende Vorgangsweise vorschlagen.

Die Jungen sollten die folgenden Konzessionen machen:

• Handelt innerhalb des gesetzlichen Rahmens,

• respektiert die moralischen Grundsätze anderer,

• toleriert Menschen über dreißig,

• macht Konzessionen in Hinsicht auf die persönliche Erscheinung.

• Sex ist Privatsache.

• Die Sprache sollte nicht zur Waffe werden.

Die ältere Generation aber sollte sich zu folgenden Konzessionen bereitfinden:

*• Gebt zu, daß es die Jugend mit ihren Protesten ernst meint,

• ärgert euch nicht über lange Haare,

• erarbeitet ein vernünftiges System der Rauschgiftkontrolle,

• hört auf, gegen die vernünftigen Aspekte des neuen Lebensstils Sturm zu laufen.

• Und am allerwichtigsten: bleibt in Kontakt mit der Jugend!

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