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Der Hetman der Kosaken

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Aus der zeitlichen Entfernung wird Vergangenes in seinem Wesen leichter erkennbar. Der Nebel der zeitbedingten Verblendung hebt sich, die unbedeutenden Kleinigkeiten in der Erscheinung eines Menschenbildes verblassen, im Hintergrund des Zufalls tritt ein lenkendes Gesetz zutage: das Besondere erweist sich als Facette und Variation des Allgemeinen. Deshalb kann die Beschäftigung mit den schicksalhaften Jahren 1944/45 gerade jetzt, vier Jahrzehnte danach, einige Klarheit bringen. Der Zeitpunkt ist wichtig: Noch wirkt das unmit-

telbare Erlebnis der Zeitgenossen, doch ist zugleich bereits eine ruhigere Betrachtungsweise möglich. Mit dem Aussterben der Beteiligten wird sich der Anblick in ein Bild ferner Historie verwandeln.

Gerade dieser Standort erlaubte es Claudio Magris, sich mit einem düsteren und widerspruchsvollen Ereignis jener Jahre zu befassen. Eine kleine Armee von Kosaken, die an der Seite Hitler-Deutschlands kämpfen wollte, aber letztlich nur militärische Hilfsdienste verrichten durfte, befand sich 1944 im Friaul. Vor der Roten Armee zurückweichend, wollte sie österreichisches Gebiet und zugleich britisches Besatzungsgebiet erreichen. (Von den Engländern wurde sie dann, entgegen allen Vereinbarungen, der Roten Armee übergeben — doch das ist eine andere düstere Geschichte.) Befehlshaber der Schar, die mit Familie, Pferd und Wagen unterwegs war und — aufgrund von Versprechungen aus Berlin — immer noch auf die Errichtung eines freien Kosakenlandes hoffte, war der ehemalige General der Weißen Armee, oberster Anführer der Kosaken, Pjotr Nikolajewitsch Krasnow. Seine Figur steht im Mittelpunkt von Magris' Erzählung.

Der Autor ist Germanist, Trie-stiner, ein profunder Kenner Mitteleuropas, und das heißt auch: empfindsam genug, um die verschlungenen Wege der Geschichte, die Vieldeutigkeit der Konflikte, das unentwirrbare Zusammenwirken von Vernunft und Gefühl, nüchterner Urteilskraft und trunkener Schwärmerei, Sein und Schein zu erkennen.' Er versteht alles, entschuldigt nichts, vermag aber in den Grundzügen menschlichen Verhaltens das Exemplarische zu erkennen. Auch das kleine sprachliche Kunstwerk, das er zu Papier brachte, ist eine Parabel. Am Beispiel des alten Kosaken-hetmans Krasnow untersucht

Magris psychische Kräfte, die im entscheidenden Augenblick das Schicksal bestimmen.

Die Erzählung ist in Form eines Briefes verfaßt. Don Guido, ein alter katholischer Priester aus Karnien, schreibt an seinen Freund Don Mario über drei Amtspersonen, die im Jahr 1957 als Vertreter des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge auf dem Friedhof des kleinen kar-nischen Dorfes Villa Santina erschienen sind, um die sterblichen Uberreste des Kosakenhetmans zu exhumieren und auf einen Friedhof nahe des Gardasees zu überführen. War der Tote, der in Villa Santina am 2. Mai 1945 beigesetzt worden ist, wirklich Krasnow? War er nicht gemeinsam mit den Kosakengenerälen Schkuro und Domanow und dem deutschen General von Pannwitz am 12. Jänner 1947 in Moskau gehängt worden? Eine entsprechende Meldung war in der „Prawda“ vom 17. April 1947 zu lesen. Der Brief Schreiber faßt die Ergebnisse eigener Nachforschungen zusammen, kann die Identität des Toten freilich nicht feststellen, findet aber immer mehr Zeugen, die dem Hetman begegnet sind, und nähert sich nach und nach der zentralen Frage. Sie betrifft das menschliche Gewissen.

Glaubte Krasnow, das Richtige zu tun? Hatte er das Unheil, dem er seine Kosaken auszuliefern im Begriffe war, in seiner ganzen Reichweite erkannt? Wollte er den Untergang? War seine Seele von Finsternis erfüllt? Wie aber vermag das Böse Macht über uns zu gewinnen? In der Auseinandersetzung mit diesen Fragen erreicht die Erzählung von Claudio Magris ihren dichterischen und also auch intellektuellen Höhepunkt.

„Das Böse ist nicht nur Mangel, Unzulänglichkeit der Realität, Leere und Gottesentzug, wie auch einige Heilige meinten“, schreibt Don Guido: „Ich glaube, daß das Böse Wesen und Substanz besitzt, daß es ist, daß die Finsternis nicht nur die Abwesenheit von Licht bedeutet, sondern daß sie Konsistenz und Dichte hat und daß sie — zwar pervertiert, aber aktiv — agiert.“ Der Gedankengang führt zur Untersuchung des Phänomens der Lüge, auch der Selbsttäuschung:

„Die Spritze, die sich ein Drogensüchtiger verabreicht, kostet ihn Jahre, aber sie schenkt ihm einen Tag. Vielleicht lebt jeder von uns so ... Vielleicht besteht das Böse überhaupt in diesem doppelten Spiel, dieser Mischung aus objektiver Schuld und schuldloser

individueller Verblendung, diesem hauchdünnen Betrug, der das Edelste in uns verschleißt, und aus jedem Sünder zuallererst ein Opfer, einen Betrogenen macht.“ Krasnow wird zum „Abbild jedes Menschen, der in bestimmten Momenten seines Lebens die Augen vor der Wahrheit verschließen will, und, um sie seinem Bück zu entziehen, ein kompliziertes Theater inszeniert.“

An diesem Punkt trifft die Erzählung eine der wesentlichsten und geheimnisvollsten Erscheinungen unseres an Grausamkeiten so reichen Jahrhunderts: sie beleuchtet Entstehung und Wirkungsweise des politischen Fanatismus. Krasnows Fall wird zum Sinnbild jeder Verblendung. Denn das wirkliche Abenteuer der Existenz besteht nicht in der Bereitschaft, den mörderischen und selbstmörderischen Weg heldenhaft und in würdiger Haltung zu Ende zu gehen, vielmehr in der Bereitschaft, „sich die Unmöglichkeit dieser egozentrischen und absurden Träume einzugestehen“ und „in Demut diese notwendige Enttäuschung auf sich zu nehmen“.

Mit der Forderung nach Demut wendet sich der alte Priester Don Guido — und mit ihm der Autor — gegen die besessene Selbstsicher-

heit der Ideologien, aber auch gegen die seichte Gedankenlosigkeit des politischen Pragmatismus. Wie aber kann zwischen Einbildung und Wirklichkeit unterschieden werden? Und: Welche psychischen Kräfte sind am Werk, wenn Krasnow die Möglichkeit, „diese notwendige Enttäuschung auf sich zu nehmen“ und dem letzten großen Auftritt seines Lebens ein Ende zu bereiten, nicht erkennen kann? Ist jede Bereitschaft zum entschlossenen Ausharren eine Form von Wahnsinn? Ist jede Seele so beschaffen, daß sie ihre „egozentrischen und absurden Träume“ als solche erkennen kann? Und betrifft die Forderung nach Demut nicht auch den jeweiligen Gegner?

Die Fragen werden vom Autor nicht beantwortet, wohl aber gestellt. Es liegt am Leser, sich — im wahrsten Wortsinn — eigene Gedanken zu machen.

Claudio Magris hat eine bedeutende Erzählung geschrieben. In ihr werden am Beispiel eines Mannes bewegende Kräfte der Geschichte dargestellt. Hier berührt Literatur Elementares: sie stellt die Frage nach der Vermeidbarkeit von Tragödien.

MUTMASSUNGEN UBER EINEN SÄBEL. Von Claudio Magris. Carl Hanser Verlag, München 1986. 80 Seiten, kart., öS 171,60.

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