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Der Vulkan Europa ist nicht erschöpft

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Qui parle Europe a tort: Europa blieb für ihn ein geographischer Begriff; ,seine böse Randbemerkung hat er nie korrigiert" (Werner Richter). Dieses Bismarck-Wort läßt sich heute, frei, so übersetzen: „Aber, sprechen wir doch nicht von Europa!" — „Die Zeiten des Europäismus sind vorbei..." Pan-Europa? Der Traum eines blutjungen Mannes, Richard Coudenhove-Kalergi, dem allerdings Winston Churchill bestätigt: „He has the right vision." Europa, eine Vision? Eine „Chimäre", ein „Monstrum", wie man im 17. Jahrhundert das Heilige Römische Reich nannte? „Das Reich ist nur eine Chimäre und ein Skelett": so der holländische Staatsmann Ja den Witt, 1664.

Gegen diese Reichs-, gegen diese Europa-Schau erhob sich ein kleingewachsener Mann, zeitlebens schwächlich, kränklich. Ein taubeneigroßes Gewächs im Nacken zwingt schon den Zwanzigjährigen zum Tragen einer riesigen Allonge-Perücke. Wahrhaftig, physikalisch sah es zeitlebens mit ihm

nicht gut aus: mit dem großen Denker einer europäischen Ökumene, eines Großen Deutschen Friedens (der Konfessionen), der aus der Mitte Europas hinübersah nach Rußland und China: Gottfried Wilhelm Leibniz.

Der Glaube des Gottfried Wilhelm Leibniz an einen größeren Gott, einen größeren Menschen,

wächst in einem Europa, das zerrissen ist in einem permanenten Bürgerkrieg.

Afrikaner und Südamerikaner erleben heute Europa ab 1914, das Europa der beiden Weltkriege und des anschließenden bereits mehr als Dreißigjährigen Bürgerkrieges, der mit kalten und heißen Waffen gekämpft

wird, als Waffenlieferanten - die Rüstungsindustrie ist die blühendste Industrie Europas —, als Lieferanten von Medikamenten, als einen Kontinent, aus dem die Konkurrenten kommen, um sich auf afrikanischem und südamerikanischem Boden die Markte, Rohstoffe, ja auch noch „Menschenmaterial" abzujagen.

Afrikaner und Südamerikaner erleben Europa als eine schier unerschöpfliche Quelle von Wissensstoff, Wissenschaft, Bildungsgütern - und Poesie. Kurz, als Modell, sei hier der vielstrapazierte Leopold Senghor berufen für Afrikas unerschöpfliche Aufnahmebereitschaft (die sich politisch durchaus mit Haß, Neid, Aggressionen verbinden kann), hochgebildet als französischer Literat, ja homme de lettre, sich einwurzelnd in der Großen Dunklen Mutter Afrika, seiner Stämme, Ströme, Götter.

Besonders faszinierend für die geistigen Strahlungskräfte Europas, die ambivalent wirken, herausfordernd, abstoßend und leidenschaftlich anziehend, möchte ich den großen Dichter Pablo Neruda berufen. Seinen Dichter-Namen wählte er, Neftali Ricardo Reyes Basualto, sich von dem tschechischen Dichter Jan Nepo-muk Neruda, der in Böhmen, einem blutenden Herzen Europas („Böhmen liegt am Meer": eines der schönsten Liebes-Gedichte der Ingeborg Bachmann), hintersinnig in seinen Prager „Klein-seitner Geschichten" verschleiert den kommenden Untergang Alteuropas - in Gestalt der Donaumonarchie - ansprach.

Der chilenische Neruda beschwört in mächtigen Poemen die spanischen Conquistadoren als „Menschenschinder", „Mörder", beseelt vom uralten Hun-

fer Europas: „Der uralte Hunger ■uropas, Hunger wie eines tödlichen Planeten Schweif..."

Gegen diesen mörderischen „Hunger" Europas und seiner nordamerikanischen Tochter, der USA, protestieren jahraus-jahrein auf Wirtschafts- und Finanzkonferenzen in allen außereuropäischen Ländern deren Vertreter. Und dieser chilenische Neruda besingt „Spanien im Herzen", seine große unzerstörbare Liebe zu Spanien, zu ganz Europa (Ost-und Westeuropa!). „Spanien, kehre wieder":

„Spanien, Spanien / violettes Herz / dich vermißte ich an meiner Brust / du fehlst mir... An wen könnte ich mich wenden, wenn nicht an deinen Mund? / ... Wohin, mütterlicher Boden, gelange ohne deine Stimme ich? / Was bin ich ohne dein gekreuzigtes Fanal? / Wo bleibe ich ohne deines Felsens Wasser? / Wer wärest du, wenn du mir nicht Leben verliehn"?

Das geistige Europa lebt: in sufitischen islamischen Denkern, die sich in Nahost der hispanisch-maurisch-islamisch-jüdischen-christlichen Koexistenz erinnern! In japanischen Intellektuellen, Dichtern, Denkern, religiösen Köpfen, die Meister Eckhart und Martin Heidegger -und Friedrich Nietzsche in sich aufgenommen haben. In chinesischen Denk-Meistern, wie dem Präsidenten der Akademie der Wissenschaften in der Ära Maos (!), Kuo Mo-jo, der Goethe übersetzte: so den „Faust", so „Werthers Leiden".

Teil zwei wird in einer der nächsten Nummern erscheinen.

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