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Die dunkle Zeit

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Dem Ubermaß an Leid wird kein Wort gerecht. Die Wirklichkeit ist an diesem Punkt stärker als die Sprache. Qualen können in der Phantasie eines anderen nachvollzogen, nicht aber mitempfunden werden. Ihre Vielzahl wirkt lähmend: die Empfindung wehrt sich, indem sie sich stumpf stellt. Theodor Adornos bekannter Satz über die Unmöglichkeit, nach Auschwitz noch Poesie hervorzubringen, zielt freilich am Genius, der allen innewohnt, vorbei. Mit jedem Menschen wird die Poesie neu geboren. Aber über Auschwitz Gedichte schreiben kann man in der Tat nicht.

Dennoch bleibt Zeugenschaft für Autoren eine moralische Pflicht. Sie hält zunächst die Fakten fest, gibt der Erinnerung die notwendige Genauigkeit. Sie kann auch für die Verfolgten, für die Toten sprechen, die ihre Stimmen verloren haben. Wo die Mörder gewaltsam Leben vernichten, vermag das Wort einiges: der Leerraum wird mit der sprachlichen Gestalt der Opfer ausgefüllt. Damit ist für die Toten wenig getan, für die Lebenden viel gewonnen. Auch könnte in der Beschwörung eine Kraft liegen, die zukünftig dem Bösen Einhalt gebietet.

Mahnungen werden freilich oft in den Wind geschlagen. Aber die Verführbarkeit zur Missetat, die Leichtfertigkeit der Komplizenschaft, die träge Neigung zum dienenden Gehorsam liegen von da an im Licht des Wissens. Niemand behauptet, er hätte nichts gewußt.

Mit den Verfolgungen, dem Massenmord während der Jahre 1938-1945 in Osterreich befassen sich viele Bücher. Eine erste Ubersicht der Romane und literarischer Autobiographien österreichischer Autoren über die dunkle Zeit ergibt mehr als hundertdreißig Titel. Nach fünfzig Jahren war es hoch an der Zeit, eine erste Ubersicht zu wagen. Das Symposion des PEN-Clubs in Wien war in vieler Hinsicht um eine vielschichtige Spiegelung bemüht. Man lud vor allem Germanisten aus den beiden deutschen Staaten, aus Polen, Jugoslawien, den USA und natürlich aus Österreich. Werke der Emigranten wurden ebenso analysiert wie die Bücher der Daheimgebliebenen. Die literarischen Lesungen boten ausgewählte Beispiele. Auch hier war ein redliches Streben nach Pluralismus bemerkbar. Marxisten wie Erich Fried oder Marie-Therese Kerschbaumer standen ebenso auf dem Programm wie bekennende Katholiken wie Gertrud Fussenegger. Stüe, ästhetische Programme, Formexperimente unterschiedlicher Art waren vertreten. Die zwei Tage nahmen die Aufmerksamkeit in Anspruch; auch die Anteilnahme.

Drei Universitätsprofessoren übernahmen die Aufgabe, das große Panorama zu skizzieren. Waltraut Schwarz (Bologna) sprach über den Roman, Joseph P. Strelka (Albany) über die Lyrik, Wolfgang Greisenegger (Wien) über das Schauspiel. Analysen einzelner Werke folgten. Der Nachmittag des zweiten Tages war dann der Emigration gewidmet.

Alle Vorträge, zudem die Wortmeldungen der Diskussion, sollen im nächsten Jahr in Buchform erscheinen; eine amerikanische Ausgabe ist geplant. Das Buch wird über die Einzelheiten unterrichten, auch ein abschließendes Urteil erlauben. Die lebendigen Augenblicke der Erschütterung, des Hochgefühls und des geistigen Vergnügens können von der Publikation nicht erfaßt werden.

Ergreifend war der Auftritt Gertrud Fusseneggers. Sie las mit ruhiger, von innerer Spannung erfüllter Stimme aus den Erinnerungen eines alten Österreichers, der sich, in“einem Anflug von grübelnder Selbsterforschung, nach den Ursachen seiner Begeisterung in den Märztagen 1938 befragt. (Die FURCHE wird den Prosatext publizieren.) Nicht nur in den Worten der Autorin, auch in ihrer Haltung, in der Melodie ihrer Stimme, in der Ausstrahlung ihres Wesens machte sich ein Element der Unruhe bemerkbar. Hier ging jemand mit seinen Erinnerungen ins Gericht, zwang das aufgewühlte Gefühl in sprachliche Form. Wie weit reicht die Verantwortung eines Menschen? Die Antwort blieb unausgesprochen. Sie lag in der Sprachmelodie, in der Körpersprache, in der Bewegtheit dieser Minuten.

Schicksal ist mit den Kategorien der aufklärerischen Moral nicht restlos zu messen. Das Verhängnis entzieht sich der Vernunft.

Für die Bitterkeit der Emigration fand Harry Zohn, Professor der Brandeis University, di angemessene Ausdrucksform: geradezu heiter, zuweilen ironisch, analysierte er die Mempiren von dreißig nach Amerika ausgewanderten österreichischen Autoren. Die Verknappung ergab eine originelle Perspektive, sie zeigte die Menschen und ihre Geschicke im Lichte eines traurigen Humors. Die dreißig Porträts bleiben unvergeßlich.

Hier zeigt sich, was die weise Verdichtung vermag. Langatmige Darstellungen ermüden; Pathos führt, als ein Ubermaß an Harmonie, bald zur Uber sättigung; Werben um Mitgefühl wirkt mitunter peinlich. Harry Zohn klatschte uns die Fakten ins Gesicht. Das erfrischte.

Ereignisse des Tages vermögen manchmal der Wahrheitssuche, unerwartet, zusätzliche Kraft zu geben. Worte allgemeiner Bedeutung gewinnen auf einmal bestürzende Aktualität; wer aufgebrochen ist, den Geist zu suchen, findet sich dem lebendigen Beispiel entgegengestellt. In solchen Augenblicken kann der Alltag als Teil der Historie erkannt werden.

Am ersten Tag des Symposions war die ebenso törichte wie brutale Äußerung eines österreichischen Politikers noch im Gedächtnis aller. Herr Michael Graff hatte zuvor gesagt, schuldig sei nur ein Mensch, der nachweislich sechs seiner Mitmenschen eigenhändig zu Tode gefördert hätte.

Daß der Bundeskanzler in seiner Begrüßung auf den Vorfall zurückkam, daß das Symposion des PEN-Clubs gegen solche Äußerungen einer lustigen und listigen Barbarei protestierte, war selbstverständlich; daß Herr Graf f noch am selben Tag zurücktrat, wirkte, für den Augenblick, erleichternd. Doch erhielt die Tagung durch den Vorfall zusätzliche Bedeutung. Man wappnete sich also, indem man die Literatur der dunklen Zeit analysierte, nicht gegen eine längst vergangene oder gegen eine eingebüdete Gefahr. Die Verführbarkeit zur Missetat, die Leichtfertigkeit der Komplizenschaft: sie waren gegenwärtig; und die Autoren konnten, ja mußten gegen die Hybris etwas unternehmen. Vor allem im PEN.

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