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Die Hintergründe der Kür von Chur

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Nicht nur in Österreich, das der Papst gerade besucht, wurzeln die innerkirchlichen Konflikte in den umstrittenen Reformen nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil.

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Nicht nur in Österreich, das der Papst gerade besucht, wurzeln die innerkirchlichen Konflikte in den umstrittenen Reformen nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil.

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Von der Ortskirche Schweiz als „Sonderfall“ spricht man hierzulande gerne mit einem gewissen Anflug von Stolz. Wie kaum in einem anderen Land gibt es in der Schweiz ein hohes Ausmaß konfessioneller Mischung von 49,4 Prozent Katholiken und 47,7 Prozent Protestanten. Die Gliederung der römisch-katholischen Kirche in sechs Bistümer und Diözesen verläuft durch die vier Sprach- und Kulturgrenzen und umfaßt sehr unterschiedliche Pfarrgemeinden.

Durch die alte demokratische Tradition ist auch die demokratisehe Einbindung der Kirche hier weltweit am stärksten. Dies drückt sich unter anderem in einer Pfarrerwahl durch die Gemeinde und in einem Mitspracherecht bei der Bischofsernennung aus. Obwohl das alte Mißtrauen gegenüber Kaisern und Kirchenfürsten sich bis heute erhalten hat, gehört eine grundsätzliche Papsttreue zum Selbstverständnis eines durchschnittlichen Katholiken. Einen Erzbischof gibt es allerdings nicht. Hierarchisches Denken geht dem Schweizer gegen den Strich, Befürchtungen

bestehen, man könnte in seiner Eigenart und Eigenständigkeit von der Weltkirche erdrückt werden.

Max Hoffer, Informationsbeauftragter des Bistums Basel, drückt dies in einem Gespräch so aus: „Wir bemühen uns um Lösungen, die der Ortskirche entsprechen, der pastoralen Situation den größten Dienst erweisen und innerhalb der Ordnung der Kirche liegen.“ Im Sinne des „Kantönligeistes“ stellt jedes Bistum, jede Pfarrgemeinde einen Sonderfall mit einem unterschiedlichen Pastoralkonzept dar. Einzelne Neuerungen gibt es so ausgeprägt nirgendwo in Europa:

• Laientheologen und -theologinnen sind in einem starken Ausmaß in der Seelsorge integriert. Bei entsprechender Ausbildung werden sie nach der Lesung der Evangelien im eucharistischen Gottesdienst als Prediger(innen) eingesetzt.

• Das Ministrieren von Mädchen ist eine Selbstverständlichkeit.

• Durch die Praxis von Bußfeiern haben die Bischöfe einen neuen Zugang zum Bußsakrament ermöglicht.

• Verheiratete Priester können von der Kirche als Laientheologen eingestellt werden.

Es gibt sehr engagierte Kreise, die diese aus dem II. Vatika-num und der Synode 1972 hervorgegangenen Veränderungen stark befürworten und mittragen. Ebenfalls sehr engagierte konservative Gruppen lehnen diese Reformen ab und sehnen sich nach einer Rückwärtsbewegung der Kirche. Dazwischen verhält sich eine große Mitte indifferent bis abwartend.

Bei der Bischofsweihe in Chur am Pfingstsonntag (FURCHE 21/ 1988) trafen ein hierarchisches und ein demokratisches Kirchenbild aufeinander. Durch die päpstliche Berufung von Wolfgang Haas zum Weihbischof mit Nachfolgerecht wurde das Privileg des Domkapitels, aus einer vom Papst vorgeschlagenen Dreierliste einen Bischof zu wählen, übergangen. Dies hatte bekanntlich eine starke Protestwelle zur Folge.

Darin, daß alle Medien regsten Anteil an den Auseinandersetzungen nahmen, wollten manche ein Indiz sehen, daß es sich um eine von einigen Laientheologen und Priestern angezettelte „Medienkampagne“ handle. Aber die Ursachen liegen bestimmt wesentlich tiefer.

Auf der Synode 1972 bis 1975, die aus Laien und Bischöfen zusammengesetzt war, hatte man sich nach umfassender Diskussion mit Mehrheit dazu entschieden, die Neuerungen des II. Vatikä-nums zu verwirklichen. Auch offizielle Vertreter der verschiedenen anderen Kirchen der Schweiz waren zur Mitarbeit eingeladen worden. Das wichtigste ökumenische Ereignis auf offizieller Ebene war die Gründung der „Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen Schweiz“, der unter anderem die drei Landeskirchen, die römisch-katholische, die christlich katholische und die evangelisch reformierte Kirche, angehören.

Unter den - römisch-katholischen Christen hatten freilich viele weiterhin Schwierigkeiten mit den liturgischen Veränderungen, mit der Öffnung zu einer religiösen Freiheit und mit der ökumenischen Bewegung. Mit dem Ende des Pontifikats Pauls VI. 1978 begannen sich die Positionen zu verhärten. Der ökumenische Dialog verlangsamte sich.

In der Person von Wolfgang Haas sieht man ein neues Indiz dafür, daß zur Zeit fortschrittlich-ökumenisches Gedankengut wenig geschätzt ist. Man zieht eine Linie zu der Ernennung von weiteren konservativen Bischöfen, zu der Bischofsweihe von Eugenio Corecco 1986 in Lugano, der Einsetzung der Weihbischöfe Martin Gächter in Basel und Amedee Grab in Genf 1987.

Dieser konservativen Entwicklung lag sicher auch die Motivation zugrunde, die weltweit 100.000 Gläubige und 150 Priester umfassende Anhängerschaft von Marcel Lefebvre aufzufangen. Bekanntlich befindet sich in der Schweiz, neben über das ganze Land verteilten Pfarrgemeinden, auch das traditionalistische Priesterseminar der Bruderschaft Pius X. in Ecöne bei Ridder s im Wallis, das dem Bistum Sitten angehört. Und es handelt sich bestimmt um keinen Zufall, daß Lefebvre just zum Zeitpunkt der Bischofsweihe in Chur verlauten ließ, er werde am 30. Juni einige Bischöfe weihen. 4 Obwohl die beiden anderen Landeskirchen die Ereignisse mit wachsamer Sorge betrachten, hat man bis jetzt auf offizielle Stellungnahmen verzichtet.

Kritisch und bestimmt für viele stellvertretend, kommentierte die gebürtige Österreicherin Ilse Ku-bitscha, seit 1986 Pastoralassistentin der Deutsch-Schweizer Gemeinde St. Boniface in Genf, die Churer Bischofsweihe: „Die Wahl des Bischofs steht gegen den Geist des Konzils und stellt eine Mißachtung des Volkes Gottes dar. Die Ordination des Bischofs hat dies verdeutlicht, denn das Volk wurde ja im wahrsten Sinn des Wortes übergangen.“

Im Gegensatz dazu steht für sie das Zeichen, daß der Jesuitenpro-vinzial Pierre Emonet setzte, indem er auf eine Teilnahme beim Festgottesdienst in der Churer Kathedrale mit den Worten verzichtete: „Ich lehne es ab, über und damit gegen das Volk zu gehen.“ Ilse Kubitscha sieht bei der derzeitigen Tendenz des Rückschrittes in der Kirche die Gefahr, daß eine Reihe von engagierten Laien sich entweder in Resignation zurückziehen oder aus der Kirche ausziehen werden. „Bei den Laien herrscht große Verunsicherung und die Angst, daß alle Erneuerungen, die das II. Vatika-num gebracht hat, uns wieder unter den Fingern zerrinnen werden.“

Ein eindrückliches Beispiel dafür, wie sehr die Beurteilung der Entwicklung innerhalb der katholischen Kirche vom Standpunkt des Betrachters abhängt, gab Hans Urs von Balthasar, der wohl bedeutendste und kürzlich von Papst Johannes Paul II. mit der Kardinalswürde ausgezeichnete katholische Schweizer Theologe. Als er während eines Fernseh-interviews darauf hingewiesen wurde, daß man ihn vor dem Konzil wegen seiner eher fortschrittlichen Haltung als zu liberal und später wegen seiner Beurteilung der Ergebnisse des Konzils als zu konservativ bezeichnet habe, antwortete er: „Ich habe mich nicht verändert.“

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