7044979-1990_29_11.jpg
Digital In Arbeit

Die Lebensmitte

Werbung
Werbung
Werbung

Unzählige psychologische und sozialwissenschaftliche Studien befassen sich mit den zweieinhalb Jahrzehnten menschlichen Lebens, die oft auch als „midlife" bezeichnet werden.

Was geschieht für und mit dem Menschen in dieser Zeit? Sicherlich führt er eine Bilanzie- ' rung der Zukunft gegenüber der Vergangenheit durch. Der Abstand zwischen dem, was man sein möchte und dem, was man ist, wird ibewußt. Oft Wird die Unvereinbar- ------------­ keit zwischen frühem Traum und gelebtem Leben offenbar.

Altern bringt uns als Menschen in ein Dilemma. Dieses Dilemma können wir nμr dann bewältigen, wenn wir Prozesse, die darin wirken, erkennen und sie als eine neue und weiterführende Grundbedingung unseres Daseins akzeptieren.

Die zweite Lebenshälfte führt uns zu Entscheidungen. Sie schiebt uns in Erlebnisbereiche, in denen Alternativen zum bisherigen Leben sichtbar oder sogar greifbar werden. Sicher kann man hier einwenden, daß in der Jugend und im frühen Erwachsenenalter durch Partnerwahl, Berufsentscheidung und beruflich bedingte Probleme genug Entscheidungen getroffen werden mußten. Das ändert aber nichts daran, daß wir uns auch in den späten mittleren J????en Entscheidungssituationen ausgesetzt sehen.

Wie sahen beziehungsweise se:.. hen Wissenschafter und Künstler diese Lebenspha????e?

Für Albert Schweitzer waren die späten Jahre gleichzeitig die „Halle, durch die man zur Ethik eingeht".

Der PsychologeErikEriksonsieht im höhe:cen Alter ein ethisches Ge setz, „dem anderen hilfreich zu begegnen, auch wenn das praktisch heißt, daß man sich selbst zur weiteren Entfaltung verhilft". Von Albert Einstein wird berichtet, daß er, eine Feldtheorie nach der anderen entwerfend, im Alter verzweifelt ausgerufen hat: „Ich brauche mehr Mathematik! " Dieser Schaffens- und Wirkungsdrang basiert „auf der Erkenntnis des sicheren und klaren Schicksals des alternden Leibes".

Auch die neuere Psychoanalyse

befaßt sich mit dem im Alter oft wirksam werdenden „Lebensüberschuß" (im Wettlauf mit einer Verminderung körperlicher Kräfte) unter Berufung auf den Freudschen Begriff der Libido. „Lebensüberschuß" wird hier mit gesteigertem Schaffensdrang gleichgesetzt.

Dieser „Überschuß" ist bei Künstlern vielfach erlebt worden. So wird gerade am späten Schaffen Tizians eine neue und letzte „Steibewußt

gerung" wahrgenommen. Man spricht von einer Rückkehr zur Jugend, die auch jugendliche Kräfte freigemacht hat, die es ihm erlaubten, seine Resignation zu überwinden und eine letzte Monumentalität zu erreichen. „Das gibt den späten Bildern die Sicherheit, die sich als ruhige Zuversicht und geistige Befriedigung dem Beschauer mitteilt und von ihm als religiöses Erlebnis empfunden wird." (H. Tietze)

Wir wissen, daß Tizian in den letzten Phasen seiner Arbeit mehr mit den Fingern als mit Pinseln gearbeitet hat. Sein Ausdruckswille

ist gerade auf seinen letzten Bildern sehr unmittelbar spürbar. Sowohl Tizian als auch Michelangelo werden in der Spätphase ihres Schaffens als „ von physischem Fanatismus der Arbeit besessen" beschrieben.

Wie ein Junger hat Michelangelo mit dem Meißel zugeschlagen, so daß die Splitter flogen. An Jahren alt, holten diese Künstler aus verfallenden Körperkräften Leistungen heraus, die Jüngere beschämten. Kreativität war für sie die vollkommenste Form der Hingabe ans Leben. Sie beinhaltete auch totale Auslieferung an sich selbst und an die eigenen Kräfte.

Das Herankommen dieser späten Lebensphase kann auch als Erlebnis großer Freiheit empfunden werden. Welche Entscheidungen hier getroffen werden, hängt sicherlich in hohem Maße von Bildung und dem, wasanAltersvorbereitung angeboten worden ist, ab.

Freiheit im Alter setzt Bejahung des Lebens voraus. Leben ist immer ein Prozeß der nach Vollendung strebt. Die Grenzen der eigenen Entwicklungsfähigkeit anzunehmen, zu erweitern oder neu zu deuten ist eine wichtige und große Chance in dieser Phase des Lebens.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung