Differenzierung! Oder: "Friede den Menschen, die guten Willens sind"
Wenn in den großen politischen Debatten die Mitte verstummt, ergreifen die Ränder das Wort. Ein Plädoyer für die Bereitschaft zur differenzierten Betrachtung – und zur Toleranz.
Wenn in den großen politischen Debatten die Mitte verstummt, ergreifen die Ränder das Wort. Ein Plädoyer für die Bereitschaft zur differenzierten Betrachtung – und zur Toleranz.
Haben Sie heute schon offen Ihre Meinung kundgetan und klargestellt, auf wessen Seite Sie stehen? Auf jener der Ukrainer? Der Palästinenser? Für oder gegen die Impfgegner? Ich meine nicht öffentlich, sondern in der Großfamilie oder bei guten Freunden. Oder gehören Sie zu jenen 27 Prozent der Menschen in Österreich, die mittlerweile Angst vor Verurteilung haben, im privaten Kreis ihre Meinung zu vertreten, und damit Selbstzensur üben? Dieses ernüchternde Ergebnis hat das Gallup-Institut letzte Woche bekanntgegeben.
Auch ich bin in manchen Situationen vorsichtiger geworden. Als Skeptiker fällt mir die zurückhaltende Äquidistanz nicht besonders schwer. Etwas frei nach Montaigne gesprochen, „genieße ich es, hin und her zu überlegen und nachzudenken, die Freuden zu genießen und mich meiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten zu bedienen“. Außerdem nehme ich das Vorrecht in Anspruch, „zu entsagen, die Wahrheit festzulegen, zu reglementieren und zu schulmeistern“. So sehe auch ich mich als Produkt der liberalen und aufgeklärten Demokratie, in der eine Vielzahl an Meinungen Gültigkeit haben darf. Und bin stolz darauf.
Um die eigene Meinung zu schärfen, hat es mir früher Vergnügen bereitet, einseitige Diskussion durch das Einnehmen der je anderen Positionen aufzumischen. Das ständige Abwägen hat es für mich bis heute nicht erforderlich gemacht, sofort eine klare Meinung haben zu müssen. Das hat sich geändert: Heute wird man beim Einnehmen einer Position der Mitte als Feigling gesehen. Allein die Verwendung des Wortes „aber“ als Hinweis darauf, dass es auch andere Sichtweisen geben mag, erzeugt Fassungslosigkeit. Gewünscht ist das Bekenntnis: sofort und ohne Wenn und Aber.
Bekenntniszwang der Kunst
Auch in Kunst und Kultur hat dieser Bekenntniszwang erschreckende Ausmaße angenommen. Als gäbe es in Österreich nicht schon zwei Millionen Fußballtrainer und Operndirektoren, müssen Künstlerinnen und Künstler nun auch Expertinnen für Nahost- und Russland-Fragen sein. Selbst Intellektuelle äußern sich jetzt seltener, weil sie Gefahr laufen, einen Shitstorm zu ernten. So hat es mir der Freund eines streitlustigen Denkers berichtet.
Für die Unterzeichnung eines Friedensaufrufs musste sich William Kentridge den Vorwurf des Antisemitismus aussetzen und selbst bei einer Veranstaltung in Wien vor wenigen Tagen dafür rechtfertigen. Die Frage, was denn Künstlerinnen und Künstler in Zeiten von Kriegen tun sollten, beantwortete der südafrikanische Künstler und Friedensmensch sehr souverän mit der Aussage: „Gute Kunst machen.“ Auch der britische Jurist und Autor Philippe Sands, dessen Familie 1938 aus Wien vertrieben und zum Teil ermordet wurde, hat sich in seinen Büchern mit der Täterseite beschäftigt, um Erklärungen für das Verhalten von Menschen zu finden, die mit Sicherheit nicht seiner Meinung waren. Mittlerweile ist Sands der Rechtsbeistand für die Palästinenservertreter vor dem Internationalen Gerichtshof. Für seine Haltung wurde der Autor kürzlich mit dem Ehrenpreis für Toleranz im Denken und Handeln ausgezeichnet. Beiden Künstlern, Kentridge und Sands, durfte ich in den letzten Wochen begegnen, und sie haben mich mit ihrer Überzeugung beeindruckt, dass Meinungsvielfalt und Differenzierung mehr denn je notwendig sind.
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