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Ein Hamlet in kurzen Hosen

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Unerwarteter Lichtblick in der traurigen Düsternis des Grazer Schauspiels: „Victor oder Die Kinder an der Macht” von Roger Vitrac in der Inszenierung von Wolfgang Quetes. Das Stück des 1952 verstorbenen Vitrac, das nach seiner Uraufführung (1928) lange Zeit verschollen war, bis Jean Anouilh es vor mehr als zehn Jahren dem begeisterten Pariser Publikum als Vorläufer des absurden Theaters vorstellte — dieses parodierte „bürgerliche Drama”, das indessen gar keine Parodie ist, geht ja eindeutig auf Jarry und seinen „Uhu Roi” zurück. „Victor” ist ein grausam hartes, surrealistisches — oder besser: phantastisches — Vaudevillei, das sich wie eine Koproduktion von Feydeau und Strindberg ausnimmt. Es fängt an wie ein Boulevardstück und bedient sich auch mit Lust des Instrumentariums dieses Genres, geht aber bald über in eine unbeschreiblich eigenartige Mischung aus der üblichen Cocu-Farce und dem gewalttätigen Pantagruelismus des Unbewußten, wie sie später weder von Audiberti noch von Ob aidi a in solcher Ursprünglichkeit erreicht wurde. Im Mittelpunkt steht der neunjährige Victor, ein Hamlet der Belle Epoque, ein Riese in kurzen Hosen, der just an diesem seinem neunten Geburtstag mit den gleichen psychologischen Waffen wie der Dänenprinz die verfaulte Welt seiner Familie richtet und dabei selbst von der Eikenntnis zum Tode reift.

Wolfgang Quetes hat das ungemein farbenreiche Stück mit großer Genauigkeit im Optischen wie in der Sprache realisiert. Daß das bös Aggressive der Vorlage zugunsten des Burlesken, vor allem aber des Poetischen etwas in den Hintergrund tritt, ist kein Nachteil: es kommt noch deutlich genug zum Ausdruck in der Bühne Wolfram Skalickis, die geist- und geschmackvoll Salon und Schlafzimmer mitten in den Raubtierkäfig einer Manege setzt. Die Komik des Vaudeville und die somnambule Lyrik einer surrealen Phantasie gehen in der sehenswerten Inszenierung eine faszinierende Verbindung ein, deren Höhepunkte zweifellos in dem Erscheinen der Todesbotin Ida Mortemar und der „Grande Dame” (beide hervorragend von Marianne Kopatz verkörpert) liegen. Quetes hat den schwer zu treffenden Auftritt der „Grande Dame” mit großem künstlerischem Instinkt bewältigt, indem er diese wie einen todbringenden Paradiesvogel seltsam melodisch In die häusliche Szenerie eindringen läßt. Die Darsteller, besonders Walter Kohls, Gerd Rigauer und Gerti Pall zeigten sich von einer neuen, ungewohnten Seite.

Erfrischend, jugendlich und sehr natürlich war eine Novität auf der Grazer Probebühne: „Ein Fest bei Papadakis” ist so munter plakatfarbig wie sein Titel. Volker Ludwig und Christian Sorge vom Berliner GRIPS-Theater für Kinder haben es für „Menschen ab zehn” geschrieben, und der junge Regisseur Reinhold Ulrych hat ihm seine „Grazer Fassung” gegeben. Es ist politisches Kindertheater im besten Sinne, nimmt in einer einfachen, aber sehr wirksamen Konstellation das Problem der Gastarbeiter aufs Korn und darüber hinaus natürlich den ganzen Komplex des rassischen und nationalen Vorurteils, das aus der irrationalen Antipathie entspringt. So frisch und ohne Krampf belehrend, weil zum Weiter- und Nachdenken anregend, wurde selten ein politisches Problem auf dem Theater behandelt. Das Ensemble, das in Zusammenarbeit mit Schulkindern bei den Proben die Aufführung unter Ulrychs Leitung erarbeitet hatte, war mit Vergnügen und Überzeugungskraft bei der (guten) Sache.

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