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Eine schwarz-gelbe Triestiner Mythologie

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Ein Buch setzt Italien in Aufregung. Die Tageszeitungen veröffentlichen die Biographie des Autors, Wochenblätter berichten über drei bis vier Seiten hinweg, Professoren setzen sich auseinander. Der italienische Kosmos erzittert in seinen Grundfesten, die Schulweisheit ließ es sich bisher nicht träumen, Pilatus fragt: Was ist Wahrheit? Neuauflagen sind in Vorbereitung.

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Ein Buch setzt Italien in Aufregung. Die Tageszeitungen veröffentlichen die Biographie des Autors, Wochenblätter berichten über drei bis vier Seiten hinweg, Professoren setzen sich auseinander. Der italienische Kosmos erzittert in seinen Grundfesten, die Schulweisheit ließ es sich bisher nicht träumen, Pilatus fragt: Was ist Wahrheit? Neuauflagen sind in Vorbereitung.

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Was ist geschehen? Der Verleger Mondadori hat den Triestiner Lokaldichter Carolus L. Cergoly ermuntert, nicht mehr Gedichte zu schreiben, sondern einen Roman. Der einundsiebzigjährige Cergoly schrieb daraufhin keinen Roman, sondern eine Mythologie in rhythmischer Prosa, in einer rhythmischen Prosa allerdings ohne Interpunktionen, unterspickt mit deutschen, slowenischen, ungarischen, französischen und jiddischen Wortfolgen halsbrecherischer Art, frei übersetzt: „Der Kaiserkomplex“. Dennoch ist das Ganze lesbarer und wesentlich durchsichtiger als die Primitiv- und Spiralprosa unserer aufgeregten Jungdichter der sechziger Jahre.

In seinem Bestseller sagt der Dichter Cergoly den Italienern nicht mehr und nicht weniger, als daß sie eine bornierte und unfähige Besatzungsmacht seien, die nur Unfug angerichtet und in der freien kaiserlich-österreichischen Stadt Triest nichts zu suchen habe. Alles sei schon so gut gelaufen. Nach dem Vertragsbruch von 1915 habe man („die Unseren“!) jene „Katzelmacher“ (richtig geschrieben, aber von Cergoly falsch übersetzt) im Verlauf einer „Strafexpedition“ (richtig geschrieben, und sogar richtig übersetzt) bis hinter Udine zurückgeprügelt, dann aber seien die strohdummen Engländer, Franzosen und Amerikaner den „Katzelmachern“ zu Hilfe gekommen, die Besatzungsmacht rückte im herrlichen Triest ein, machte es zu einer miesen Provinzstadt, drang in die ehrwürdigen österreichischen Kaffeehäuser ein, wo man Bier trank, die „Neue Freie Presse“ las und Billard spielte, und das hatte natürlich zur Folge, daß die besten Vertreter der Triest bevölkernden k. u. k. Mischrasse sich eine Kugel durch den Kopf schossen.

Man juble nicht, denn Vorsicht ist geboten. Der alte Cergoly ist eingefleischter Atheist und Pfaffenfresser. Uber seiner Welt waltet kein Gott, sondern ein bösartiges Fatum, das manchmal Zeus, manchmal Jahwe und manchmal Odin heißt, ein Fatum, dem die abscheulichen Raben Hugin und Munin (natürlich falsch geschrieben) Neid auf das Wohlbehagen der österreichisch-ungarischen Mischrasse einflößten. Zeus-Jahwe-Odin beschloß daraufhin, Krieg und Verderben über die Menschheit zu bringen.

Das bösartige Fatum Zeus-Jahwe-Odin bediente sich dabei nicht nur der Italiener, sondern auch des päpstlichen Nuntius, der in Wien (ausgerechnet) dem Baron Vogelsang den verderblichen Gedanken eingab, er möge die christlichsoziale Partei gründen. Vor Vogelsang gab es nämlich nur den Viktor Adler, der die Proletarier angewiesen hatte, sich rote Nelken ins Knopfloch zu stecken, nach Schönbrunn zu ziehen und dort „Alles neu macht der Mai“ zu singen, zur Freude des alten Herrn.

Denn der alte Herr mit den porzellanblauen Augen wußte genau, daß sich alles ändern müsse, auf daß alles beim alten bleibe. Noch mehr dieser’ Ansicht war dann der junge Herr mit den porzellanblauen Augen und dem feschen braunen Schnurrbart, der einst dem Volksschüler Cergoly auf die Schulter klopfte und „Brav, brav“ sagte, was zur Folge hatte, daß der Volksschüler Cergoly (und das scheint denn auch tatsächlich passiert zu sein) in der Achtung seiner Lehrer und aller übrigen Triestiner stieg und wußte, daß er durch kaiserliche Berührung die Dichterweihe empfangen habe. Und nur die stumpfsinnig nationalistischen Italiener und die herrschsüchtigen christlichsozialen Pfaffen waren daran schuld, daß dann alles so anders kam.

Und das Schreckliche an all dem ist ja, daß in jeder Mythologie ein winziges Körnchen Wahrheit steckt…

Vorsicht ist geboten, denn längere Kapitel des „Complesso dell’ Impera tore“ von Cergoly sind den Liebesstunden zwischen dem burgenländischen Dragoner Anton Vitėz und einer Slowenin gewidmet, die als Dienstmädchen bei der triestini- schen Levantinerin Karamanlis beschäftigt ist. Diese Liebesnachmittage spielen sich im Stundenhotel der sephardischen Jüdin Regina Vivante ab, die beim bloßen Herannahen des blauen und virilen Dragoners aus dem Burgenland Sprüche aus dem Hohenlied murmelt.

Uneingeweihte glauben, Französisch sei eine erotische Sprache. In Wirklichkeit bleibt das Französische immer distanziert, weil es an die von der Academie geprägten Formen gebunden ist. Hingegen ist das Italienische seit Aretino, dem großen Renaissance-Spötter, von einer erschreckenden Direktheit, die in jüngster Zeit nur noch vom neuproletarischen Bundesdeutsch-Deutsch eingeholt wird. Kurz und gut: So mancher wird wohl, wenn’s zu arg 'wird, die Liebesstunden des burgenländischen Dragoners mit der slowenischen Hausmagd überblättern.

Vorsicht ist auch geboten, weil der schwarz-gelbe Kosmos des Carolus Cergoly (Carolus, nicht Carlo, denn ein Karl hat ihn ja zum Dichter geweiht) nicht verwechselt werden darf mit dem schwarz-gelben Kosmos eines Joseph Roth, der die Wirklichkeit lediglich überhöht hat. Bei Cergoly ist nämlich Absurdität nicht, wie bei Herzmanovsky-Orlando, ein Gegenstand der Verhöhnung, sondern die einzig menschenwürdige Daseinsform.

In Cergolys übernationalem österreichisch-ungarischem Paradies (einem Religionsersatz offenbar) ist alles „ordinatamente in ordine“, „wohlgeordnet in Ordnung“ oder auch „ordnungsgemäß befohlen“, auf allen Schreibtischen herrscht dieselbe peinliche Ordnung wie auf dem Schreibtisch in Schönbrunn, Züge verkehren fahrplanmäßig, man trinkt Bier all’ Imperatore, mit einem langen Zug und nachher mit mehreren kurzen Schlucken. Der Triestiner Gendarm Milanovič erhält vom Kaiser die (nicht existente) Medaille „Von Gottes Gnaden“, die Hunde der Kaiserin Elisabeth dürfen „alles anschauen“, aber sie bellen nicht, denn das widerspräche der Etikette, und die Kaiserin hat es ihnen verboten.

Das ganze Reich, übernational, liberal, tolerant, funktioniert nach den Regeln der spanischen Etikette, und deshalb funktioniert es so gut und alles ist „ordinatamente in ordine“. Stammvater Karl von Steiermark stürzt in Lipizza vom Pferd, entleert, der angeblichen Etikette entsprechend, seine Blase auf den rechten Vorderhuf des Gauls, wird melancholisch und erhält in Salzburg von Paracelsus den Rat, in Lipizza ein Gestüt zu gründen. Worauf wieder alles „ordinatamente in ordine“ kommt. (Was verstehen denn diese Italiener schon von Ordnung!)

Vorsicht ist geboten, denn der Autor tritt am Ende sogar selber auf. Das heißt, nein, er tritt nicht auf, er wird gesucht, denn er verbringt den Winter in Wien und in Budapest, um dort ins Theater zu gehen und Operetten anzusehen. Und er fügt seinem Epos ein Wörterbuch an, in dem er das als ideale österreichische Lebensform definierte Wort „fortwürsteln“ von den heißen Würsteln ableitet und in dem er versichert, „pörkele“ (er meint „Pörkölt“) sei die Übersetzung des österreichischen Wortes „Gulasch“ ins Ungarische. Ein gulyäs verzehrend, weinte und lachte ich Tränen.

IL COMPLESSO DELL’ IMPERATORE. Von Carolus L. Cergoly. Verlag Aldo Mondadori, Milano 1979, 310 Seiten, 1738 Lire.

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