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Einer, der frei geboren war

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Die Frage nach dem „Wer bin ich“, nach der Geschichte des Eigenen, dem Woher, den Wurzeln, erweist sich als Existenzfrage jedes menschlichen Seins. „Ich bin, was meine Geschichte aus mir gemacht hat, und ich bin ebenfalls, was ich aus meiner Geschichte zu machen versuche“, schreibt der schwarze Autor James Baldwin in der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ zu Alex Haleys Buch „Wurzeln“ („Roots“), das jetzt als TV-Serie (die allerdings den Intentionen des Autors nicht ganz entspricht) Furore macht.

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Die Frage nach dem „Wer bin ich“, nach der Geschichte des Eigenen, dem Woher, den Wurzeln, erweist sich als Existenzfrage jedes menschlichen Seins. „Ich bin, was meine Geschichte aus mir gemacht hat, und ich bin ebenfalls, was ich aus meiner Geschichte zu machen versuche“, schreibt der schwarze Autor James Baldwin in der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ zu Alex Haleys Buch „Wurzeln“ („Roots“), das jetzt als TV-Serie (die allerdings den Intentionen des Autors nicht ganz entspricht) Furore macht.

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Bald nach Erscheinen des Buches entspann sich in Amerika eine heftige Kontroverse zwischen anderen Autoren und dem Verfasser von „Roots“. Man warf Alex Haley Geschichtsfälschung vor; er habe Werke anderer Autoren zum Teil abgeschrieben und Kunta Kinte sei keineswegs sein leiblicher Urvater, sondern eine erfundene Figur.

Wie immer dem auch sein mag, beachtenswert (und beabsichtigt) bleibt doch die neuerliche Aufdeckung der Geschichte der Sklaverei, die mit Erfolg aus dem Bewußtsein der Nation verdrängt worden war. Es kommt nicht von ungefähr, daß unter der Administration Jimmy Carters die schwarze Bevölkerung Amerikas ihre Selbstfindung von neuem und verstärkt vorantreibt. Ist es doch zum ersten Mal in der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, daß ein Präsident seine Wahl den Negerstimmen verdankt.

Auf der Suche nach der Vergangenheit und damit nach der Quelle für Gegenwart und Zukunft seines Volkes verfolgte der Negerjournalist Alex Haley die Geschichte seiner Familie zurück bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts, als einer der Urahnen von Weißen aus Afrika verschleppt und als Sklave nach Amerika verkauft wurde. Nach mehreren Ausbruchsversuchen fügte sich Kunta Kinte, „der Afrikaner“ -wie man ihn in der Familie noch durch Generationen hin nennt - in sein Schicksal. Er heiratet die schwarze Frau, die ihn gepflegt hat, als er - grausam mißhandelt - an seinen Wunden darniederlag. Von seiner Tochter Kizzy wird er gewaltsam getrennt. Von ihrem weißen Herrn mißbraucht, bringt Kizzy einen Sohn zur Welt, der eine große Familie gründet. Nun folgen ausgedehnte Beschreibungen über das Leben der einzelnen Familienmitglieder bis zu ihrer Befreiung aus der Sklaverei. In der Folge zieht die Familie in den Norden Amerikas, wo sie als freie Neger leben können und wo auch später der Autor Alex Haley geboren wird.

Eine 700 Seiten lange Saga, mit der sich die Negerfamilien in Amerika identifizieren können und in der sie ihre Geschichte finden, den Ursprung ihrer Werte, die Welt ihrer Prägung.

„Roots“ wurde über Nacht in Amerika zum Bestseller, die Fernsehverfilmung einer der größten TV-Erfolge, ein größerer als der bis dahin größte Hit aller TV-Zeiten, „Vom Winde verweht“.

Haley schildert zunächst sehr eindrucksvoll das afrikanische Leben, die Rituale, Verhaltensweisen und Gedanken der Bewohner jenes Dorfes, aus dem der junge Kunta Kinte von Sklavenjägern nach Amerika verschleppt wird. Hier beginnt die Entwicklung eines Volkes in Abhängigkeit, Unterwerfung, vor allem aber in Unfreiheit und eigener Besitzlosigkeit. Die amerikanischen Neger wurden ihrer Vergangenheit beraubt - man nahm ihnen Namen, Sprache, Religion und Riten -, ohne Zukunft, geschichts-und hoffnungslos, denn: „nur freie Bestimmung gibt Hoffnung“. Sie trugen den Namen ihres weißen Besitzers, ihre Kinder und Kindeskinder waren Eigentum anderer Menschen. Sie wurden in Unfreiheit geboren; für sie war der Neuankömmling Kunta Kinte ein Außenseiter, „ ... einer, der frei geboren war.“

Das Buch beschreibt ausgedehnt grausame Mißhandlungen, aber auch tröstliche Begegnungen zwischen Schwarzen und Weißen, wo menschliches Verstehen, ja sogar Zuneigung fühlbar wird: „ ... wollte ihm scheinen, daß die Schwarzen und die tou-bobs (Weißen) auf sonderbare Weise aneinander hingen... daß die toubobs in der Nähe der Schwarzen am glücklichsten waren.“

Der Autor bedient sich einer einfachen Sprache, wohl auch deshalb, um sich einem möglichst breiten Publikum verständlich zu machen. Nur allmählich stellt sich der Leser auf die stellenweise allzulangen Details und das Schwelgen in emotionsgeladenen Beschreibungen ein. Sein Buch soll bewußtseinsfördernde und mobilisierende Wirkung ausüben; es soll sicherlich die innere Freiheit seines Volkes stärken; denn die Wiederentdeckung seiner afrikanischen Herkunft weckt Selbstgefühl.

Ob der Einfluß des Buches auf die schwarze Bevölkerung Amerikas die Integration und damit das ausgeglichene und zufriedene Zusammenleben fördert, könnte man in Frage stellen. Daß jedoch die partnerschaftliche Gleichwertigkeit der schwarzen und weißen Rasse den Prozeß der Selbstfindung voraussetzt, versucht das Buch einmal mehr aufzuzeigen. Dieser Gleichwertigkeit allerdings steht auch heute noch vielfach das Bewußtsein der Weißen entgegen. So schreibt James Baldwin: „Viele Jahre lang mußten (die Weißen) ... glauben, daß sie den Schwarzen überlegen sind... Der Schwarze war im Kosmos der Weißen ein Fixstern; wenn dieser jetzt seine Stellung ändert, bricht das Weltall für sie zusammen.“ Solche Worte sind in der Evolution des Melting Pots Amerika noch nicht ganz überholt. Vielleicht setzen Alex Haleys „Roots“ einen weiteren Schritt in dieser Entwicklung.

WURZELN - .JIOOTS“. Roman von Alex Haley. S. Fischer, Frankfurt 1977, 744 Seiten, öS 292,60.

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