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Eingebildete Entfremdete
Sprachkritische Vorbemerkung: Der Titel spielt auf die Komödie Molieres an. Es müßte richtig „Der eingebildete Entfremdete" heißen.
Literaturwettbewerbe, die hierzulande für Literaturförderung gehalten werden, fördern in Wirklichkeit die Kenntnis von Bewußtseinslagen. Literaturwettbewerbe sind die subtilste Meinungsforschung, die man sich vorstellen kann. Wer der Literatur Existenzberechtigung nachweisen will, was angesichts ihrer schlechten wirtschaftlichen Lage sehr löblich ist. der argumentiert gerne mit der Barometerfunktion der Kunst.
Was also zeigt das Barometer? Tief, tief, schlecht. Regen, Sturm, Gewitter. Hundsmiserabel.
Wieso nach solchem Blick aufs Barometer der Literatur überhaupt noch Menschen ohne Regenschirm aus dem Haus gehen, ist mir unbegreiflich.
Wir leben in einem Chaos fürchterlicher Zwänge. Die Ehen sind Höllen gegenseitiger Unterdrückung. Die Schulen sind Zuchthäuser des Kadavergehorsams. Die Ämter sind Ausgeburten der Bosheit. Die Arbeitsplätze sind Folterkammern namenlosen Arbeitsleides. Die Kirchen sind Brutnester der Angst. Die Gewerkschaften sind Machtblöcke der Repression. Und der Staat und die Politik sind überhaupt teuflische Diktatur. Wer lächelt, leckt sich in Wirklichkeit die Lippen zum Menschenfraß.
Ja. so schaut's aus in den modernen Märchen der Literatur. Die Perfektion, die Kunstfertigkeit, die Phantasie, die Uberzeugungskraft, die Sprachgewandtheit, die da aufgewendet werden, sind dabei ein Beweis für das Anliegen.
Denn der A ufschrei des Individuums vor der Repression der Apparate ist echt. Es wäre allzu billig, die Literaten zu professionellen Miesmachern zu stempeln, die uns keine Ruhe gönnen.
Und doch wage ich hier ein Gegenbild einzublenden: Wieso sind dann rund 90 Prozent der Arbeitnehmer in Österreich mit und an ihren Arbeitsplätzen zufrieden? Wieso sind zwei Drittel alter Ehen glücklich? Wieso steigen die Mitgliederzahlen der Gewerkschaft? Wieso sind manche Kirchen voll und manche Politiker beliebt?
Wie bitte, alles nur Täuschung, alles nur raffinierte Diktatur, alles nur verinnerlichte Selbstentfremdung? Ähnlich wie Karl Steinbuch kürzlich auf die zwanghaften Selektionen der Wirklichkeit durch die Massenmedien nbsp;aufmerksam
machte, muß ich auf die Selektion der Literatur hinweisen. Literatur hat sehr viel mit Schadenfreude zu tun. Die Lästerung hat tausend Zungen, das Lob hat nur eine.
Das sind Gesetze und Freiheiten der Kunst. Nichts wäre verhängnisvoller als sie lenkend zu stören.
Verhängnisvoll wie bei den Massenmedien aber ist auch die unkritische Aufnahme. Es besteht die Gefahr, daß sich Unzufriedenheit und Selbstentfremdung aufschaukeln. Daß an die Stelle jener schöpferischen Unzufriedenheit, die der Motor allen Fortschritts ist, dabei der Austro-Frust der Nihilisten tritt.
Man kann den Menschen auch ihr Unglück einreden. Daher die Frage: Wer hat eigentlich so ein eminentes Interesse daran, eine Gesellschaft von eingebildet Entfremdeten zu erzeugen? Oder hat nur die Raunzerei einen Namen?
Als politische Kolumne soll dieser Beitrag durch Provokation zum Denken anregen. Die einzelnen Formulierungen des Autors müssen sich nicht mit den Auffassungen der Redaktion decken.
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