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Es schneit aufwärts

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Der schwarze Blechkasten, den mein Vater damals kurz vor Weihnachten heimbrachte, war leicht verbeult und stellenweise mit Rost überzogen, man sah ihm an, daß er lange unbenützt in einer Kammer gestanden war, und ich versprach mir nicht viel davon. Es sei eine Laterna magica, sagte mein Vater, er habe als kleiner Bub damit gespielt.

Ich weiß noch, daß ich aufgeregt war und der Augenblick, in dem die mit gelber Seide überzogene Lampe über dem Tisch verlosch und nur noch der kreisrunde Lichtfleck auf dem weißen Leinen zu sehen war, ist mir in Erinnerung geblieben. Ich sehe die Hand des Vaters vorsichtig in seine Pappschachtel greifen und eine der Glasplatten daraus hervorholen, sie in einen hölzernen Rahmen legen, den Rahmen in einen Spalt im Blechkasten schieben.

Im gleichen Augenblick erschien ein buntes Bild auf dem Leintuch, das mich sehr erregte: Auf gefährlich steil abfallendem Felsen stand ein bärtiger, nur mit einem schräg um den Leib geschlungenen Tierfell bekleideter Mann und blickte melancholisch auf das weite, blau schimmernde. Meer hinaus, ihm zu Füßen kauerte ein dunkelhäutiger Mensch mit langem, auf den bloßen Rücken fallendem Haar. Ein Zweifel war ausgeschlossen, es konnte sich nur um den mir wohlbekannten Robinson und seinen getreuen Freitag handeln.

Ich kannte die Geschichte aus meinen Büchern, ich kannte auch alle die anderen Geschichten, deren Helden jetzt nacheinander auf dem Leintuch erschienen.

Aber nicht nur die Figuren bekannter Bücher zauberte der Vater aus seinem Kasten auf das weiße Leinen an der Tür, auch farbenprächtige Naturschauspie- le, Sonnenauf- und Sonnenuntergänge, glitzernde Eisberge, vom Nordlicht beschienen, wilde Tiere mit gräßlich gefletschten Zähnen, schwarzhäutige, halbnackte Wilde unter Palmen, Schiffe auf sturmgepeitschtem Meer. Aus einem mit einer kleinen Kurbel versehenen Rähmchen sprangen - oh Wunder! — bunte Reflexe in allen Regenbogenfarberi, die sich zu immer neuen, immer phantastischeren Sternen formten.

Zuletzt kam, was mich von allem am meisten faszinierte: Uber zwei Holzröllchen war ein durchlöcherter Papierstreifen gezogen. Auch hier gab es seitlich am Holzrähmchen eine winzige Kurbel, wenn man sie drehte, schneite es auf der Leinwand vor der Tür, helle Flocken sanken aus einem imaginären Himmel zur ebenfalls unsichtbaren Erde herab, und obwohl ich wußte, daß draußen auf der Straße der Schnee seit Tagen in großen Mengen lag, erfüllten mich die glitzernden Lichtflocken mit solcher Begeisterung, daß ich mir einbildete, nie vorher etwas so Hübsches gesehen zu haben.

Wem ich es am nächsten Tag erzählt habe, weiß ich nicht mehr, aber die Sache sprach sich sehr schnell herum. Alle wollten kom-

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men, um zu sehen, wie es an unserer Zimmertür schneite. Gut, sagte meine Mutter, obwohl es so knapp vor Weihnachten wör, Mittwoch um drei.

Mittwoch um drei, sagte ich dann auch in der Schule, auf der Straße, überall wo mir Kinder begegneten und mich fragten, ob sie denn auch zu mir kommen dürften, ich muß es oft gesagt haben, denn an dem von der Mutter be- zeichneten Nachmittag strömten unzählige Kinder in unser Haus.

Anfangs ging es recht friedlich zu, wir zauberten Robinson und seinen Freitag an die wieder mit einem Leintuch verhängte Tür, die wilden Tiere, die Sonnenauf- und die Sonnenuntergänge, wir ließen den Stern in allen Formen und Farben erstrahlen, und endlich ließen wir es lange und ausgiebig schneien, wir konnten nicht genug bekommen von dem leise herabsinkenden Schnee auf dem Leintuch, bis dann ausgerechnet der kleine Joschi auf die Idee kam, die Kurbel in umgekehrter Richtung zu drehen, worauf die Flok- ken, anstatt wie üblich vom Himmel zur Erde zu fallen, von dieser aufstiegen und in den unsichtbaren Himmel zurückversanken.

Mehrere Minuten lang saßen wir schweigend da und bestaunten das ungewohnte Bild, das Wunder, das sich vor unseren - Augen ereignete: den in einen zwar nicht sichtbaren, uns deshalb aber umso deutlicher vorstellbaren Himmel emporschwebenden Schnee. Als dann aber der eine Bub die Kurbel immer schneller zu drehen begann, die Flocken schließlich in rasender Geschwindigkeit aufwärts flogen, war der Bann gebrochen. Alle drängten zum grauen Blechkasten, alle wollten die kleine Kurbel drehen, es schneite und schneite, hinauf und hinunter, aufwärts und abwärts, langsam und schnell, schließlich brach ungeheurer Jubel aus, alle sprangen und hüpften durcheinander, eines der Kinder hatte die Tür zum angrenzenden Schlafzimmer geöffnet und dort meine Spielsachen entdeckt, nun balgten sie sich um die Puppen und Teddybären, die Bausteine und Spiele, die kleine Küche mit dem Puppengeschirr, einige warfen mit Sofakissen, wieder andere hatten die eisernen Ringe im Türrahmen und die dazugehörige Schaukel entdeckt. Meine Mutter kam und brachte Äpfel und Weihnachtsgebäck.

Ich kann mich nicht erinnern, jemals vorher oder nachher ein ähnlich lustiges, turbulentes, dabei fröhliches Fest erlebt zu haben, nicht damals als Kind, schon gar nicht, als ich erwachsen war. Und nirgends, wohin ich auch später gekommen bin, niemals mehr, sind die weißen, glitzernden Schneeflocken von der Erde aufwärts in den Himmel gefallen, wie damals aus meines Vaters alter, verbeulter magischer Laterne. Niemals mehr hat sich dieses Wunder ereignet, niemals mehr hat es aufwärts geschneit.

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