6850182-1976_43_12.jpg
Digital In Arbeit

Ferner Klang naher

Werbung
Werbung
Werbung

Was heute als konsolidiertes und etabliertes Fest der Avantgardemusik — auf halbem Wege zwischen Donaueschingen und Agram, zeitlich nahtlos an den Warschauer Herbst anschließend — sich vor der doch immer interessiert anreisenden internationalen Presse geriert, ist ein armer Zwitter und trotz seines Charakters als „Abnormitätenschaustück“ publikumslos wie eh und je. Bald geht das „Musikprotokoll“ ins zehnte Jahr und hätte Ursache, Nabelschau zu halten. Und nach der Kurskorrektur Graz vielleicht die Chance, Agram wirklich zu überflügeln, weltweit notierte „Großkunst“ zutage zu fördern und ein derart musikverständiges lokales Publikum ^wieder zu gewinnen, wie es die Grazer mit ihrer Offenheit für die Novitäten von Rossini, Wagner („Tannhäuser“), Strauß („Salome“) bis über die Jahrhundertwende ein ganzes bürgerliches Jahrhundert lang gewesen waren.

Freilich fehlen da in der derzeitigen Konstruktion des „Musikprotokolls“ zwei wichtige Voraussetzungen: eine noch großzügigere Dotierung, die wirklich bedeutende Kompositionsaufträge finanzieren könnte einerseits; anderseits der Verzicht auf Nachholbedarf in Form von Retrospektiven auf verschollene Komponisten wie Hauer, Zemlinsky oder Schreker und auf Repertoirewerke von Varese, Satie usw., die mit entsprechender Junktimierung endlich ins Musikvereinsprogramm integriert werden müßten, weil sie schließlich Klassiker der Moderne sind wie Strawinski oder Ravel, gegen die sich kein Konzertbesucher noch ernsthaft mit Aufkündigung seines Abonnements zur Wehr gesetzt hat

So viel zum Grundsätzlichen. Die „Marketing-Praxis“ schleunigst zu verbessern, müßte dem ORF als Veranstalter eigentlich gar nicht nahegelegt werden. Franz Schreker als Ahnherr der Moderne und Lehrmeister einer Komponistengeneration (auch Alban Berg bekennt seinen Einfluß) wurden zwei Konzerte und die konzertante Produktion des „Opern-Hits“ von 1912 „Der ferne Klang“ sowie ein Forschungssymposion gewidmet.

Seine Ahnherrenrolle steht heute nicht mehr so fest wie in den zehner und zwanziger Jahren, als „Der ferne Klang“ von Frankfurt bis Graz gespielt wurde. Wagnerianisch-mahle-risch oder debussyisch wogen oder flirren die Orchesterfluten eines fast immer leicht übertriebenen Orchesterapparats, stabreimend oder mundartelnd abgeschmackt erscheinen stellenweise die Libretti, die sich Schreker zelbst zimmerte.

Und doch — auf lange Strecken, etwa in den Whitman-Liedern „Vom Ewigen Leben“ für Sopran, wirkt diese Nervenmusik mit ihrem Klangfarbenreichtum schlechthin genial. Den „Fernen Klang“ näher brachte Ernst Märzendorfer, der mit dem ORF-Orchester minutiös geprobt hatte und seine Sänger Maria de Francesca, Eberhard Büchner, Claudio Nicolai, Gerhard Stolze, Rudolf Mazzola und den vortrefflichen, in Graz engagierten, amerikanischen hohen Tenor William Reeden von den vielen schönen Details der Partitur zu überzeugen wußte.

Als Metapher für eine romantische, stimmungsfreundliche, tonalitätsnahe Zukunftsmusik freilich rückt der „Ferne Klang“, den auch das Publikum goutiert, wieder näher. Etwa in den feingesponnenen Kompositionen des Grazers Gösta Neuwirth, in der Abkehr des Polen Krzysztof Meyer von der Aleatorik, in der Zitattechnik von George Crumb (Trillo di dia-volo nach Tartini, Donizettischer Glasharfeneffekt), in des Polen Zyg-munt Krauze Chopin destruierenden „Letzten Konzert“, aber auch in den Palestrina-Sequenzen Lorenzo Fer-reros.

Daneben kam aber dennoch auch heuer wieder in drei „guten Dingen“ die Funktion des Festivals besonders heraus, in der oststeirischen Industriestadt Welz erarbeitete der Holländer Bernard van Beurden, ein Komponist, der spezialisiert ist auf die Arbeit mit Amateurgruppen, mit Haupt- und Mittelschülern, sowie mit der Elin-Stadtkapelle ein Programm mit einer Uraufführung (H. M. Pressl „Ronde 48“) und vier österreichischen Erstaufführungen, in einer intensiven Probenwoche ein Konzert, das den ganzen Ort auf die Beine brachte und zeigte, wie man Menschen für neue Musik gewinnt. Zweitens ist Lorenzo Ferreros für Graz geschriebenes Oratorium „Le neant ou l'on ne peut arriver“ auf Texte von Blaise Pascal ein faszinierendes Tongemälde, scheinbar ist sogar tonal alles im Lot.

Schließlich Vinko Globokars Bericht von einer Folterung „An einem Tag wie jeder andere“ — ein brutales, plakatives, aber wahrheitsgetreues Bild des Terrors, der von uns seelisch schon lange empfunden, politisch jederzeit zu fürchten ist. Leider ist dieses Werk keine Novität, auch technisch nicht.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung