6811577-1972_37_10.jpg
Digital In Arbeit

Illusion und Verblendung

19451960198020002020

Die Wiener Theatersaison hat begonnen, „Josefstadt“ und „Volkstheater“ gaben den Auftakt. Ibsens „Wildente“ und Molieres „Tartuffe“, durch Jahrhunderte und — mehr noch — durch geistige Welten voneinander getrennt, sind dennoch Zähler über dem gleichen Nenner, Varianten zum Thema der Lüge und ihrer Entlarvung.

19451960198020002020

Die Wiener Theatersaison hat begonnen, „Josefstadt“ und „Volkstheater“ gaben den Auftakt. Ibsens „Wildente“ und Molieres „Tartuffe“, durch Jahrhunderte und — mehr noch — durch geistige Welten voneinander getrennt, sind dennoch Zähler über dem gleichen Nenner, Varianten zum Thema der Lüge und ihrer Entlarvung.

Werbung
Werbung
Werbung

Lüge kann Illusion sein, mildtätig, schillernd, stimulierend sogar; sie kann aber auch Betrug sein, Parasi-tentum, kalte Vernichtung des arglosen Opfers. Ibsens nordischer Ehrlichkeitskomplex, sein nahezu zwanghaftes Streben nach Aufklärung, sein genußvolles Bohren in längst verjährten Übeln ist im Grunde nichts anderes als verhüllte Aggression, ein Hang zu schonungsloser, aber genial sublimierter Grausamkeit. (Menschlicher ist da gewiß das mitteleuropäische Verfahren, alles zu durchschauen, alles zu wissen, oder doch wenigstens zu ahnen, alles dabei bewenden zu lassen, alles mit ironischem Lächeln und schweigend den Abgründen der Vergangenheit anzuvertrauen, um wenigstens in Zukunft mit den Gegebenheiten dieses immer und überall fragwürdigen Daseins fertigzuwer-den. Menschlicher auch ist das französische Verfahren, Böses und Bedrohliches durch Gelächter zu paralysieren —doch davon später.)

Mit Ibsens eiskalter nordischer Härte kam in der Josefstadt Heinrich Schnitzlers feinnervige, immer ein wenig in melodiösen Zwischentönen schwebende Regie nicht recht zu Rande. Dazu kam, daß ein Aufgebot von hervorragenden Schauspielern sich gezwungen sah, einen Abend lang gegen den eigenen Typus zu spielen, Kurt Heintel ausgenommen, der dem Hjalmar Ekdal alle Verschwommenheit, alle Wehleidigkeit und allen Egoismus lieh, die dieser Figur — ihr allein im ganzen Spiel — zu eigen sind, der alle (lebensrettenden) Illusionen des von Tanten verzogenen Schwächlings so glaubhaft in den Raum stellte, daß sie selbst alsbald Gestalt annahmen und die Szene beherrschten. Eva

Vogel als Hedwig, als „Wildente“, war die Überraschung des Abends. Einem Bild von Edvard Münch entstiegen, zerbrechlich, immer ein wenig schief, blaß, mit hilflosen, wunderbar ausdrucksstarken Kinderhänden, blieb sie vom ersten bis zum letzten Augenblick optisch und akustisch in der Vision des Dichters, blieb sie, gleichgültig, ob sie nun wirklich die Rolle zur Gänze ausfüllte, jenes Geschöpf, das Ibsen gemeint hatte; blieb eingetrübter Akkord, blieb Dichtung.

Das Publikum der Josefstadt, das, wie zahlreiche Sozio- und Politologen verkünden, gar nicht vorhanden ist, war vorhanden und reagierte instinktsicher: es lohnte die interessante, aber uneinheitliche Aufführung einer tadellos zubereiteten, aber verbratenen „Wildente“ mit zögerndem Beifall. ten der Tartuffe-Rolle, die zwischen Schmierenulk und höchster Vollendung keine Alternativen kennt; zwei und eine halbe Stunde lang war Schmid Tartuffe und Herr des Hauses, und ihn zu vertreiben gelingt nicht einmal dem „Boten des Königs“, der für den unwahrscheinlichen, aber einzig denkbaren Abschluß zu sorgen hat.

Denn in dieser Inszenierung wird die Apotheose Ludwigs XIV. nicht gestrichen, nur ins traumhaft Ironische übersteigert und im grellen Scheinwerferlicht vor dem Schattenriß des Sonnenkönigs zu Ende gespielt. Moliere, fasziniert wie alle klügeren Zeitgenossen, von der stilbildenden Kraft des absolutesten aller absoluten Monarchen, hat diese barocke Wendung seiner Tragödie zur Komödie durchaus ernst gemeint. Nicht als plumpe Schmeichelei gegenüber dem Freund und Gönner, sondern als Hilfeschrei, über kirchliche und feudale Zwischeninstanzen hinweg, an den einzigen, dessen Erfahrung und Machtfülle unter den gegebenen Umständen noch einen Fluchtweg öffnen konnte. Und so steckt auch in der irrealen Apotheose und (unbeabsichtigt) in ihrer ironischen Verfremdung ein Stück Weisheit. Erich Thanner ungerechten Lehrer und den scheinheiligen Pfarrer, das sich feilbietende Mädchen und den bestechlichen Arzt, die lustige Trauerfeier und den umfunktionierenden Parteiapparat, die verquälte Hochzeit und den gesellschaftsgeschwängerten grünen Hügel von Bayreuth, das Kokettieren mit dem Arbeiterparadies und den existenzgefährdenden Seitensprung. Diese Allgemeinplätze sind schon abgestanden genug, ärgerlich ist es aber, wenn auch noch fortwährend reflektiert wird, Beispiel: 3. Bild (Depression I) „Max versteht die Welt 'nicht mehr. Und seinen Gott auch nicht“ ... und da fühlt sich Gerhard Wimberger (er hat es nicht direkt, aber indirekt durchblicken lassen) wie ein Jacques Offenbach unserer Tage! Aber was da so über olympischem Feuer brodelt, ist nicht mehr als musikalischer Eintopf, ein Stammgericht für Vegetarier des künstlerischen Anspruchs! (Der Griff in das Zitatenkästchen kann nicht eigene Einfälle ersetzen.)

Das Ensemble des Münchner Gärtnerplatztheaters (die Vielzahl der Mitwirkenden macht eine Würdigung von Einzelleistungen unmöglich) ist der einzige Lichtblick in dieser Aufführung, wenn man davon ausgeht, daß Wimberger als Dirigent seine eigene Musik beherrscht und sie auch exzellent zu servieren versteht. Für alle Akteure sei stellvertretend Hans Körte in der Hauptpartie des „Max“ genannt, ein Phänomen der Verwandlungskunst, ebenso glaubhaft als Schuljunge wie als Fabrikboß. Es gab viel Beifall und hartnäckige Buhrufe für die Autoren.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung