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Im Elend, aber modern

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Wenn der Name Darcy Ribeiro fiel, gerieten die sonst sö kühlen, und in Berlin eher hinter einer Maske von Schnodderigkeit sich verbergenden Soziologen in spürbare Erregung. In der Tat ist Ribeiro einer der bekanntesten brasilianischen Sozialwissenschafter und Völkerkundler; außerdem hat er einen kriminalistisch getönten Roman über das Leben der Amazonas-Indios geschrieben, „Maira”, der 1980 auch auf deutsch erschienen ist, war er Gründungsrektor der Universität von Brasilia und neun Jahre Erziehungsminister—ehe er ins Exil ging. Ein Unbehauster, ein (freilich privilegierter) Flüchtling.

Studiert hat er, obgleich er eigentlich Arzt werden wollte, Anthropologie, also die umfassendere Wissenschaft vom Menschen. Jetzt bezog er—auf dem Symposium des Berliner Instituts für Vergleichende Sozialforschung — Stellung gegen die Anthropologen, wobei er „wir” sagte, also auch von sich selber sprach, aber damit sicher eine Haltung meinte, von der er sich abgewandt hat.

„Wir neigen zum Sammeln, bringen den Indianern vielleicht eine alte Hose mit, um sie einzutauschen gegen ein Museumsstück für Berlin; dieses Aufbewahren in der Glasvitrine ist den Indianern völlig unverständlich. Bei ihnen gelten Menschen etwas. die schöne Dinge anfertigen können, nicht sie zusammentragen.” Und an anderer Stelle seines Vortrags: „Diese Konferenz hat einen archaischen Charakter. In Zukunft wird es das nicht mehr geben, daß man über Indianer redet, ohne daß sie anwesend sind und selbst ihre Stimme erheben können.”

Nun hätte es wenig Sinn gehabt, einige Vertreter der sogenannten Mikro-Ethnien einzuladen, Nachfahren der präkolumbischen Urgemeinschaften, mittellose Landarbeiter etwa, die „cholos” (Mischlinge), oft kleine Händler,- die zwar die Indianer ausnutzen, aber selber den Lebensunterhalt aus ihrem Gewerbe nicht bestreiten können, oder Bergbauern aus den peruanischen Anden. Sie alle hätten vermutlich die Stimme nicht erhoben, sondern — wenn der begleitenden Ausstellung mit dem ironischen Titel „Moderne Zeiten in den Anden” zu glauben ist—die Coca-Cola-Dose an den Mund gesetzt

Der Titel des Berliner Symposiums zum Auftakt des Kulturfestivals „Horizonte'82” zeigte ein Krisenprotokoll an: „Bruchstellen der Entwicklung—Lateinamerika in den 80er Jahren”, und eine als Grundlagenmaterial gedachte Taschenbuch-Publikation, nüch-tern-informierend, ohne missionarische Emphase, traf diesen für die ganze Welt geltenden Krisenzustand noch genauer: „Das Elend der Modernisierung - Die Modernisierung des Elends”.

Keine Frage, daß dieses Elend auf die reichen Länder, auf die Industrienationen der westlichen Welt zurückschlagen wird, wenn sich nicht bessere Einsicht durchsetzt. Einstweilen sind die Leidenden beispielsweise die kirchlichen Basisgemeinden in Guatemala, sind allein in diesem Land eine Million Menschen — mehr als ein Siebtel der Gesamtbevölkerung - auf der Flucht, sind die unschuldigen Opfer jene dreitausend Christen, die in Guatemala seit dem 23. März dieses Jahres durch das Militär ermordet wurden.

Katholische Bischöfe aus Brasilien und Julia Esquivel aus Guatemala, unermüdliche Streiterin für die „Kirche der Armen”, erhoben in Berlin ihre warnende Stimme. „In unserem Lande (Guatemala) die Wahrheit zu suchen, kostet Blut, kostet den Tod. Es ist eine Kirche, die für die Gerechtigkeit stirbt, es ist eine gekreuzigte Kirche—und das sind keine Metaphern. Es ist eine Kirche der Katakomben.”

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