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In der Wüste

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Wenn das Wort wächst, dann mindern sich die Wörter", hat Augustinus in einer Predigt gesagt: „Verbo crescente verba deficiunt". Wort ist hier gemeint als Spruch, Zuspruch Gottes, der sich in jenem Jesus Christus vollendet, den der Johannesprolog einfach das Wort nennt. „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott". Diesen ungeheuren, Christen wie Nichtchristen bewegenden Spruch, nimmt der Literat Ernst Jandl in Dienst, um zeitkritisch die nichts verschonende Zerstörung der Sprache und so auch die Zerstörung der Humanität anzuklagen. Durch Weglassen und Umstellen von Buchstaben und Silben wird das johanneische Urwort allmählich in ein sinnloses Lallen verwandelt. Jandl nennt sein kritisches Sprachgebilde „Fortschreitende Räude".

Die Klage über Sprachnot und die Anklage des Mißbrauches der Sprache sind freilich nicht neu, sondern vielmehr große Bögen: von der Einrede des Propheten Jeremias gegen seine Berufung „Ich kann nicht reden" und von seinem Zorn auf die Falschpropheten bis zu Goethes gelassener Feststellung, daß die Sprache nicht auf alles eingerichtet sei. Von den Vorsokratikern bis zu Hölderlin, der in seinem letzten an die Mutter gerichteten Brief schreibt: „Mich auszudrücken, ist mir so wenig gegönnt gewesen im Leben."

„Unsere Epoche, die redseligste von allen, äußert sich unaufhörlich und bringt sich dennoch nicht zu Wort", hat Manes Sperber angemerkt. Unser Zeitalter des Kunststoffs produziert auch sprachlich viel solchen Kunststoffs und verschont auch Religionen und Kirchen nicht, wenn sie nicht— wie die orthodoxe Christenheit — zäh am Uberkommen festgehalten haben. In der erneuerten katholischen Liturgie wird zu viel geredet, hat die russische Dissidentin Tatjana Goritschewa beklagt. Es fehlen das Schweigen, die Schönheit, die mystische Dimension.

Wo und wie könnte sich die Heilung des Gehörs und des Sprachvermögens ereignen? Eine Antwort gibt wieder Hölderlin mit dem Vers „Der Ort aber war die Wüste". Jesus war in der Wüste, bevor er anfing in Vollmacht so zu reden, daß die Menschen außer sich—in Ekstase, sagt das Evangelium - gerieten durch die Kraft seiner Botschaft.

Nur wenige gehen freiwillig in die Wüste—was immer Wüste sein mag — die Wüste Juda für Jesus, das Krankenbett für viele, die Zürcher Bibliothek für Lenin, der Archipel Gulag für Solschenizyn. Denn in dieser Wüste ist zwar ein Brunnen, der hinabreicht in die Tiefe Gottes oder für den Nichtglaubenden wenigstens in die Tiefe des Seins. Wüste ist aber auch ein Ort der Anfechtung, der Versuchung aufzugeben oder sich den Dämonen auszuliefern. Auch Do-stojevskijs Großinquisitor war in der Wüste und ist verhärtet wiedergekommen. In der Wüste wächst das Wort: das leise oder laute Wort, Lob, Klage, Anklage, Beschwörung.

Arm wie das Kind von Bethlehem ist das neue religiöse Wort, das neue kirchliche Wort inmitten der Wörter und Worte heutiger Literatur. Dieses Wort wird nur wachsen, wenn Menschen, die es sagen sollen, sich der Wüste, dem Schweigen und dem Leiden nicht entziehen. Wenn genug geschwiegen und gelitten sein wird, dann wird sich wieder einmal der Traum Dietrich Bonhoeffers erfüllen, den er kurz vor seiner Hinrichtung in einem Brief zum Ausdruck gebracht hat. Bonhoeffer schreibt: „Es wird eine Zeit kommen, ich weiß nicht wann, da werden Menschen das Wort Gottes so neu sagen können, daß andere aufhorchen und erstaunen und sich verändern."

Auszug aus einem Beitrag zum Mediensonntag am 3. Juni

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